Butscha/Odessa/Lwiw, 03. Apr (Reuters) – Nach dem Truppenrückzug vor Kiew sieht sich Russland mit dem Vorwurf schwerer Kriegsverbrechen konfrontiert. In Butscha, im Umland der ukrainischen Hauptstadt, sind laut dem Bürgermeister über 300 Einwohner während der einen Monat dauernden russischen Besatzung ums Leben gekommen. Außenminister Dmytro Kuleba beschuldigte Russland am Sonntag, in dem Ort ein Massaker verübt zu haben: „Wir suchen immer noch nach Leichen, es gibt bereits Hunderte.“ Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell sprach von Gräueltaten.
Und Bundeskanzler Olaf Scholz forderte die schonungslose Aufklärung von Verbrechen des russischen Militärs. „Ich verlange, dass internationale Organisationen wie das Internationale Komitee vom Roten Kreuz Zugang erhalten zu diesen Gebieten, um die Gräueltaten unabhängig zu dokumentieren“, sagte der SPD-Politiker. Die Täter und ihre Auftraggeber müssten konsequent zur Rechenschaft gezogen werden.
Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) kündigte schärfere Sanktionen gegen Russland an. Die Ukraine forderte, von den G7-Staaten „vernichtende“ Strafmaßnahmen gegen Russland. Der Kreml hat sich bislang nicht zu den Vorwürfen geäußert. Zuvor hatte das Präsidialamt mehrfach dementiert, Zivilisten anzugreifen.
„Das, was in Butscha und anderen Vororten von Kiew passiert ist, kann man nur als Völkermord bezeichnen“, sagte der Kiewer Bürgermeister Vitali Klitschko der „Bild“-Zeitung. Es seien grausame Kriegsverbrechen, die der russische Präsident Wladimir Putin zu verantworten habe. Es seien Zivilisten mit verbundenen Händen erschossen worden. Ein Berater des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj sagte, ukrainische Truppen hätten getötete Frauen entdeckt, die zuvor vergewaltigt worden seien. Ihre Leichen seien dann angezündet worden. Auch getötete Kinder seien aufgefunden worden.
LEICHEN UND AUSGEBRANNTE PANZER
Reuters-Reporter sahen am Wochenende Leichen auf den Straßen von Butscha und ausgebrannte Panzer sowie Raketen, die nicht detoniert sind. Aus einem Massengrab auf einem Kirchengelände ragten Hände und Füße mehrerer Leichen heraus. Baerbock nannte die Bilder aus Butscha „unerträglich“. Ihr US-Kollege Antony Blinken sagte, die Bilder kämen einem Schlag in die Magengrube gleich.
Die Menschenrechtsorganisation „Human Rights Watch“ (HRW) hat nach eigenen Angaben eine Reihe „offenkundiger Kriegsverbrechen“ der russischen Truppen dokumentiert – neben Kiew seien diese auch in den Regionen Tschernihiw im Norden und in Charkiw im Osten des Landes verübt worden. Unter den nahe Kiew Getöteten war auch der ukrainische Fotograf und Dokumentarfilmer Maksim Levin. Er hatte seine Bilder und Videos seit 2013 der Nachrichtenagentur Reuters zur Verfügung gestellt.
Bei dem Zurückweichen russischer Truppen bei Kiew handelt es sich nach Ansicht von Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg nicht um einen echten Rückzug. Es sei eher eine Neupositionierung, der weitere Angriffe folgen könnten. Der Krieg müsse enden, sagte Stoltenberg bei CNN. Es liege in der Verantwortung von Putin, dies zu tun.
ANGRIFF AUF ÖLRAFFINERIE BEI ODESSA
Russland nahm unterdessen die am Schwarzen Meer im Südwesten der Ukraine gelegene Hafenstadt Odessa verstärkt ins Visier, in deren Umland laut Stadtverwaltung mehrere Raketen einschlugen und wichtige Teile der Infrastruktur trafen. Über Opfer wurde zunächst nichts bekannt.
Das russische Verteidigungsministerium teilte mit, es seien eine Ölraffinerie und drei Öllager nahe Odessa getroffen worden. Odessa ist die Hauptbasis der ukrainischen Marine. Für die russischen Invasionstruppen ist die Stadt ein strategisch wichtiges Ziel auf dem Weg, eine Landbrücke zu dem westlich gelegenen Transnistrien zu schaffen. Die mehrheitlich russischsprachige Region hat sich von Moldau losgesagt und hat russische Truppen auf ihrem Gebiet stationiert.
Das Rote Kreuz unternahm laut der ukrainischen Vize-Regierungschefin Iryna Wereschtschuk einen neuen Versuch, Einwohner aus Mariupol in der südöstlichen Region Donbass mit einem Buskonvoi aus der Stadt in Sicherheit zu bringen. Dort sind Tausende Zivilisten von einem russischen Belagerungsring eingeschlossen und haben kaum Zugang zu Wasser und Nahrungsmitteln. Ein Hilfskonvoi war am Freitag auf dem Weg in die Hafenstadt umgekehrt, da die Lage als zu gefährlich eingeschätzt wurde. Russland gibt dem Roten Kreuz für die Verzögerung die Schuld.
Westen prangert Kriegsverbrechen Russlands an – „Unerträgliche Bilder“
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