UPDATE Berlin, 09. Nov – Die Wirtschaftsweisen fordern angesichts drohender Rezession und hoher Inflation in Deutschland ein Umsteuern in der Schulden- und Steuerpolitik. Es seien Maßnahmen gegen die
Energieknappheit und zielgenaue Entlastungen nötig, erklärten sie in ihrem am Mittwoch vorgestellten Gutachten. Darin schlagen die Sachverständigen vor, zeitlich befristet den Spitzensteuersatz zu erhöhen oder alternativ einen Energie-Soli für Besserverdienende zu erheben. Zudem sollten Steuerentlastungen im Rahmen des Abbaus der sogenannten kalten Progression verschoben werden. Bei Bundesfinanzminister Christian Lindner kamen die Vorschläge nicht gut an: „Die Bundesregierung wird nicht zusätzlich die Steuern erhöhen.“
Deutschland sei in einer Phase der wirtschaftlichen Unsicherheit, betonte der FDP-Politiker. Steuererhöhungen seien in einer solchen Phase gefährlich. Es gebe durch die Vorschläge bereits eine kontroverse Debatte und eine Verunsicherung in der Wirtschaft. Nötig seien eher Entlastungen als Steuererhöhungen. Die fünf Wirtschaftsweisen sehen dies kritisch, insbesondere die Pläne zum Abbau der kalten Progression: „Der Zeitpunkt erscheint uns ungünstig gewählt. Es wäre mit einem Federstrich jetzt zu machen, das zu verschieben“, sagte die Ratsvorsitzende Monika Schnitzer.
Das würde nach ihrer Darstellung einen zweistelligen Milliardenbetrag ergeben, den man nicht als Schulden aufnehmen müsse. Es gehe letztlich bei den vorgeschlagenen Kurskorrekturen auch um Generationsgerechtigkeit: „Wir sind als Land ärmer geworden durch diese Krise, irgendjemand muss das zahlen. Das können einfach nicht nur unsere Kinder sein“, sagte die Münchner Ökonomin.
Die hohe Inflation kann dazu führen, dass Beschäftigte bei Lohnerhöhungen mehr Steuern zahlen, obwohl ihre Kaufkraft abgenommen hat. Dies soll nach Lindners Plänen dadurch verhindert werden, dass der Verlauf des Steuertarifs verschoben wird. „Der Ausgleich der kalten Progression ist steuersystematisch zwar grundsätzlich geboten“, erklärte der Wirtschaftsweise Achim Truger: „Aktuell geht es aber um eine zielgenaue Entlastung unterer und mittlerer Einkommensgruppen, und die öffentlichen Haushalte sollten nicht überstrapaziert werden. Daher sollte der Abbau der kalten Progression auf einen späteren Zeitpunkt verschoben werden.“
Die Wirtschaftsweisen hinterfragen zudem die Pläne der Bundesregierung, die Schuldenbremse 2023 erstmals seit 2019 wieder einzuhalten – eines der Hauptanliegen Lindners. Der Bundeshaushalt 2023 könne aus heutiger Sicht durch die Nutzung der allgemeinen Rücklage in Höhe von etwa 40 Milliarden Euro die Regelgrenzen der Schuldenbremse zwar einhalten: „Wenn diese Rücklage im Jahr 2023 genutzt wird, steht sie jedoch im Jahr 2024 nicht mehr zur Verfügung.“ Die Einhaltung der Regelgrenzen ohne die Möglichkeit, in stärkerem Umfang auf Rücklagen zurückgreifen zu können, könnte dann zu „einem hohen Konsolidierungsdruck und einem entsprechend stark negativen fiskalischen Impuls führen“.
WEISE HABEN MILDE REZESSION AUF DEM RADAR
Die Konjunkturentwicklung sehen die fünf Top-Ökonomen weniger düster als viele andere Auguren aus Wirtschaft und Wissenschaft. Für 2023 erwartet der Sachverständigenrat einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts (BIP) von 0,2 Prozent nach einem prognostizierten Plus von 1,7 Prozent im laufenden Jahr. Die Weisen sind damit weit optimistischer als etwa der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK), der für nächstes Jahr einen Konjunktureinbruch von rund drei Prozent befürchtet.
Der sieht die Vorschläge der Weisen zu einer Erhöhung des Spitzensteuersatzes kritisch: „Dies wäre ein Schlag ins Kontor für Millionen von mittelständischen Unternehmen“, warnte DIHK-Hauptgeschäftsführer Martin Wansleben. Die Stimmung der Unternehmen sei sehr pessimistisch. Ganz akut kämpften sie mit den dramatisch gestiegenen Energiepreisen. Zusätzlich drohe auch noch angesichts der Rekordinflation eine Konsumzurückhaltung seitens der Verbraucher: „Deshalb sind unsere Erwartungen für 2023 sehr viel skeptischer als die des Sachverständigenrats“, erläuterte Wansleben.
Die Weisen rechnen mit einer Inflationsrate von 8,0 Prozent für das laufende Jahr und nur einer leichten Abschwächung auf 7,4 Prozent für 2023. Hohe Inflationsraten dämpften das Wirtschaftswachstum und könnten sich negativ auf den Arbeitsmarkt auswirken, warnten die Experten. „Die EZB muss daher weiterhin entschlossen handeln“, erklärt Ratsmitglied Ulrike Malmendier. „Die Kunst dabei ist, die Zinsen mit Augenmaß zu erhöhen, um die Inflation zu bekämpfen, ohne dass die Konjunktur übermäßig einbricht.“ Die Währungshüter hatten im Sommer ihre Nullzinspolitik beendet. Inzwischen liegt der Leitzins bei 2,0 Prozent.
Weise erwarten leichte Rezession – Debatte um Steuervorschläge
Quelle: Reuters
Titelfoto: Bild von Peter Bauer auf Pixabay
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