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Wehretat, Energie – Putin erzwingt Kehrtwende deutscher Politik

Berlin, 24. Feb (Reuters) – Monatelang hatte die Bundesregierung auf ein Einlenken des russischen Präsidenten Wladimir Putin gesetzt. Doch mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine steht die Ampel-Koalition vor einem grundlegenden Wandel ihrer Politik. 

„Der gesamte Ansatz ‚Wandel durch Annäherung‘ ist mit dem System Putin gescheitert“, sagt der Russland-Experte der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), Stefan Meister, zu Reuters. Das betreffe die Beziehungen zu Russland ebenso wie die Verteidigungsausgaben und die Energiepolitik

Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) hatte bereits auf der Münchner Sicherheitskonferenz vor einer Woche klar gemacht, dass die bei den Koalitionsverhandlungen zum Wehretat geführte Debatte überholt sei. Im Dezember hatten SPD, Grüne und FDP noch vermieden, die Selbstverpflichtung aller Nato-Staaten zu bekräftigen, nach der zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) für Sicherheit aufgewendet werden sollen. 

Grünen und Sozialdemokraten hatten dies abgelehnt. Putins Angriff ändert alles: Alarmiert stellt man in der Bundesregierung fest, wie wenig militärisches Material überhaupt vorhanden ist. Lambrecht mahnte, es sei nicht genug Geld da, wenn zusätzliche Aufgaben wie etwa der Schutz der Nato-Ostgrenze übernommen werden sollten.

Bittere Selbstkritik kam von der früheren Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU). „Ich bin so wütend auf uns, weil wir historisch versagt haben“, twitterte sie. „Wir haben nach Georgien, Krim und Donbass nichts vorbereitet, was Putin wirklich abgeschreckt hätte.“ 

Russland hatte 2008 in Georgien interveniert, 2014 die Krim annektiert und seidem auch die Separatisten in der Ostukraine unterstützt. Kramp-Karrenbauer räumte ein, man habe vergessen, dass man nur gut verhandeln könne, wenn man militärisch stark sei.

Die Konsequenz aus Sicht des Wissenschaftlers Meister: „Der Verteidigungsetat muss deutlich erhöht werden – wahrscheinlich reichen zwei Prozent des BIP gar nicht“, sagt der DGAP-Experte. „Es muss um drei oder vier Prozent gehen.“ Denn Russland verändere die europäische Sicherheitsordnung. Eine Anhebung des Wehretats gilt nach Angaben aus Koalitionskreisen mittlerweile auch als unstrittig.

Die Höhe allerdings steht nicht fest. Denn das Geld fehlt an anderer Stelle im Haushalt. „Die Erhöhung der Verteidigungsausgaben wird aber eine der ersten Folgen von Putins Vorgehen sein“, sagt auch Gwendolyn Sasse, Direktorin des Zentrums für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS), zu Reuters.

UMSTEUERN IN DER ENERGIEPOLITIK

Dazu kommt eine neue Sicht auf den Energieträger Gas. „Nord Stream 2 sollte komplett gestoppt und die ganze Energiewende überdacht werden“, fordert DGAP-Experte Meister.

Die von Kanzler Olaf Scholz am Dienstag plötzlich verkündete Verzögerung im Zulassungsprozess sei nur der halbe Schritt. Dazu kämen ganz zentrale Fragen: „Ist Gas wirklich noch die richtige Übergangstechnologie? Was kostet die Energiewende? Sollte man nicht lieber die Laufzeit der drei Atomkraftwerke verlängern, die Ende des Jahres abgeschaltet werden sollen?“ Er hoffe auf eine sehr steile Lernkurve der Ampel. 

„Dass deutsche Gasspeicher noch 2015 an Russland verkauft wurden, war völlig falsch. Wie strategisch blind war auch die frühere Bundesregierung, dass sie die Energieabhängigkeit von Russland nicht reduzierte, sondern ausbaute?“, kritisiert er und spricht von einer Mischung aus „Blauäugigkeit und Opportunismus“ in der deutschen Politik. Auch ZOiS-Chefin Sasse kritisiert, schon die frühere schwarz-rote Koalition von Bundeskanzlerin Angela Merkel habe viel zu lange auf Gas aus Russland gesetzt. 

RUSSLANDPOLITIK

Auch hier müsse deutlich und schnell umgedacht werden, meint Sasse. In der SPD hatte schon vor Wochen eine Debatte über die sogenannte Ost- und Entspannungspolitik eingesetzt – die Scholz noch bei seinem Amtsantritt gepriesen hatte. Jetzt aber sprechen die Waffen. Und SPD-Co-Chef Lars Klingbeil machte dabei klar deutlich, dass auch die Sozialdemokraten sich von der früheren Nähe zu Russland lösten. 

Der Angriff auf die Ukraine hat das Verständnis für russische Sicherheitsinteressen verstummen lassen: Sogar Altkanzler Gerhard Schröder, der Posten bei russischen Energiefirmen innehat und wiederholt um Verständnis für Putins Politik geworben hat, betonte, dass keine Sicherheitsinteressen einen Angriff auf ein anderes Land rechtfertigten. Deutschland stockt nun wie mehrere andere Nato-Länder die Militärpräsenz etwa in den baltischen Staaten auf – was nach Ansicht des litauischen Außenministers Gabrielius Landsbergis bereits seit langem nötig gewesen sei. 

Nur eines scheint sich nicht zu verändern – die Debatte um die restriktiven deutschen Waffenlieferungen. Zwar meint auch die ZOiS-Chefin, dass sich die Lage mit dem russischen Einmarsch in die Ukraine grundlegend verändert habe.

Die Vermittlerrolle Deutschlands sei durch die Aufkündigung auch des sogenannten Normandie-Formats durch Russland in den Hintergrund getreten. „Aber an der Ablehnung von Waffenlieferungen an die Ukraine wird sich nicht ändern“, heißt es in der Regierung auch nach der Sitzung des Sicherheitskabinetts am Donnerstag. Sasse findet dies auch nicht falsch. „Waffenlieferungen an die Ukraine sind eher symbolhaft und würden nichts ändern, weil das Land einer militärischen Supermacht gegenüber steht.“

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Titelfoto: Symbolfoto 

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