Berlin, 14. Jul (Reuters) – Die Landtagswahl in Niedersachsen am 9. Oktober wird ein besonderer Test für die Gefühlslage in Deutschland. „Dann könnte die Stimmung im Land durch hohe Energiepreise und eine mögliche neue Corona-Welle eine viel schlechtere sein als jetzt“, heißt es in Regierungskreisen in Berlin mit Sorge. Der Ostbeauftragte der Regierung, Carsten Schneider, warnt ganz offen vor sozialen Spannungen vor allem im Osten. Von „sozialem Sprengstoff“ spricht Kanzler Olaf Scholz mit Blick darauf, dass Millionen Haushalte Heizkostenabrechnungen mit Aufschlägen von mehreren hundert Euro zu erwarten haben. Die Zeichen stehen auf einen heißen Herbst.
„Das eigentliche Problem der Energiekrise in Ostdeutschland ist, dass stark steigende Preise einen Großteil der Bevölkerung hier härter treffen“, sagt der Ostbeauftragte Schneider zu Reuters. „Die Ängste werden jetzt nicht nur von der AfD ausgeschlachtet, sondern auch von CDU und Linkspartei“, fügte er hinzu. Schneider erwartet deshalb ein Wiederaufleben von Demonstrationen. „Es gibt in Ostdeutschland eine Tradition, Unmut durch Demonstrationen auch auf die Straße zu bringen.“ Und auch der Leiter des kommunalen Energieversorgers „eins“ in Chemnitz schlägt Alarm. Die Gasrechnung für Privathaushalte verdreifache sich derzeit, sagt der Geschäftsführer von „eins – energie in sachsen“, Roland Warner, im Reuters-Interview.
Während Kanzleramt und Wirtschaftsministerium versuchen, alternative Gasquellen in aller Welt aufzutreiben, um russisches Gas zu ersetzen, hat eine breite Debatte um die Konsequenzen der Gas-Krise begonnen. Kanzler Scholz initiierte die sogenannte Konzertierte Aktion, um mit Gewerkschaften und Arbeitgebern gemeinsam Maßnahmen gegen die hohe Inflation zu beraten. „Die Strategie ist, möglichst viele Gesprächspartner einzubinden, um der Bevölkerung sagen zu können, dass man wirklich alles getan habe“, meint der Politologe Gero Neugebauer. Aber das verhindert nicht, dass aus einer täglich nervöser werdenden Ampel-Koalition Vorschläge kommen, an welcher Stelle Menschen mit kleinen und mittleren Einkommen entlastet werden sollten.
Meinungsforscher bestätigen die labile Stimmung: „So schlechte Werte haben wir nicht einmal in der Finanzkrise gemessen“, sagt Peter Matuschek, Geschäftsführer des Forsa-Instituts, zu Reuters. „Über 70 Prozent erwarten, dass die Lage noch schlechter wird und die Preise für Energie und Nahrungsmittel weiter steigen.“ Mittlerweile sei die Verunsicherung auch in der Mittelschicht angekommen. „40 Prozent der Befragten sagen, dass sie mit der Lage nicht mehr zurechtkommen“, sekundiert Hermann Binkert, Chef des Insa-Meinungsforschungsinstituts.
Die Sorge vor einer kippenden Stimmung im Land erklärt nach Angaben aus Regierungskreisen den derzeitigen Kurs von Kanzler und Ampel-Koalition. So will die Regierung Energieversorger wie Uniper mit Milliarden Euro retten – aber möglichst nicht die stark gestiegene Gaseinkaufspreise auf die Kunden umwälzen. Die Regierung will diesen Schock durch eine Preisanpassungsklausel oder Umlage so lange wie möglich hinauszögern, zumal einige der Entlastungen aus den beiden Anti-Inflations-Hilfspaketen der Ampel mit einem Volumen von 30 Milliarden Euro teilweise erst im August und September greifen.
GELBWESTEN ALS VORBILD, AFD ALS PROFITEUR?
In vertraulichen Gesprächen mit Regierungs- und Ampel-Vertretern wird deshalb immer wieder die Sorge vor einem heißen Herbst genannt – und auf Proteste wie der der „Gelbwesten“ in Frankreich verwiesen. Die grassierende Corona-Pandemie und neue Einschränkungen könnten die Stimmung zusätzlich vergiften. Meinungsforscher und Politik-Experten wiegeln bei der Frage nach „Gelbwesten“-Parallelen aber deutlich ab. „Deutschland ist nicht Frankreich“, betont Insa-Chef Binkert. Auch Forsa-Geschäftsführer Matuschek erwartet nicht, dass unzufriedene Bürger nun auf der Straße revoltieren. Beide sehen auch nicht, dass die Rechtspartei AfD von einer wachsenden Unzufriedenheit in der Bevölkerung profitieren könnte, die Linke ohnehin nicht. „Die Zahlen zeigen eindeutig, dass die Mehrheit der Bürger keiner der im Bundestag vertretenen Parteien die Kompetenz zuweist, dass sie die Probleme des Landes lösen können – einschließlich der AfD“, sagt Binkert.
Isabelle Borucki, Politikexpertin der Universität Siegen, glaubt ebenfalls nicht an eine echte Gelbwesten-Bewegung. „Die Hemmschwelle für eine Radikalisierung auf der Straße ist in Deutschland höher als in Frankreich“, sagt sie zu Reuters. „Aber es kann schon sein, dass die Unzufriedenheit bei einer gewissen Klientel verfängt, die der AfD weggelaufen ist.“
Forsa-Geschäftsführer Matuschek sieht ein ganz anderes Ventil für den Frust der Bürger im Herbst: „Die Wahlbeteiligung dürfte deutlich sinken, weil viele sagen: ‚Wir trauen keiner Partei etwas zu und bleiben zu Hause'“, sagt er. Wenn die Niedersachsen Anfang Oktober einen neuen Landtag wählen, dürfte der Blick deshalb mindestens so stark auf die Wahlbeteiligung gehen wie auf die Koalitions-Optionen. Scholz selbst orakelte düster, dass das eigentlich schwierige Jahr 2023 werden dürfte.
Mobilmachen wegen Energiepreisen – Politik erwartet heißen Herbst
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