Berlin, 29. Sep – Im Fall einer Gasmangellage könnte Deutschland nach Ansicht der führenden Forschungsinstitute 2023 in eine beispiellose Rezession rutschen. Dann dürfte die Wirtschaft um 7,9 Prozent schrumpfen, erklärten die Ökonominnen und Ökonomen am Donnerstag in ihrem Herbstgutachten für die Bundesregierung. Zu diesem Risikoszenario komme es bei einem kalten Winter und fehlenden Einsparungen beim Energieverbrauch, hieß es am Donnerstag in der Expertise mit dem Titel „Energiekrise: Inflation, Rezession, Wohlstandsverlust“. Die Fachleute gehen in ihrer Basisrechnung aber davon aus, dass eine Notlage trotz angespannter Energieversorgung wohl verhindert werden kann. Dieses Jahr erwarten sie 1,4 Prozent Wirtschaftswachstum und 2023 einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts (BIP) um 0,4 Prozent. 2024 dürfte die Wirtschaft wieder 1,9 Prozent zulegen, im Risikomodell allerdings noch um 4,2 Prozent schrumpfen.
„Der russische Angriff auf die Ukraine und die daraus resultierende Krise auf den Energiemärkten führen zu einem spürbaren Einbruch der deutschen Wirtschaft“, sagte Konjunkturchef Torsten Schmidt vom Essener RWI-Institut. Die hohen Energie- und Lebensmittelpreise dürften auch kommendes Jahr steigen und für deutliche Kaufkraftverluste sorgen. Dies führe zu weniger Konsum und bremse damit auch die Dienstleister. „Dieser Schock wirkt durch die Wirtschaft durch.“ Sowohl einkommensschwache Haushalte als auch Firmen seien auf weitere staatlichen Hilfen angewiesen.
Die Forscherinnen und Forscher appellierten jedoch in Richtung der Politik, bei den Unternehmen dürfe es nicht zu dauerhaften Subventionen kommen. Die Koalition dürfe die Fiskalpolitik „nicht als Gießkanne“ einsetzen, warnte Ifo-Konjunkturchef Timo Wollmershäuser. Wichtig seien gezielte Maßnahmen für ärmere Haushalte, die sich ihren Lebensunterhalt nicht mehr leisten könnten. Dann würde es Firmen auch leichter fallen, höhere Energiepreise weiterzureichen, ergänzte Stefan Kooths, Vize-Präsident des Kieler IfW-Instituts. Dies sei ein harter Weg für die Betroffenen, aber ökonomisch am besten. Ohnehin gebe es bereits in Europa einen Entlastungs-Wettlauf. Hier müsse die EU wettbewerbsrechtliche Verzerrungen verhindern.
REGIERUNG KANN WOHLSTANDSVERLUST NICHT AUSGLEICHEN
Die Inflation werde von 8,4 Prozent im Jahresschnitt 2022 dann nächstes Jahr auf 8,8 Prozent klettern und sich erst wieder 2024 auf 2,2 Prozent beruhigen, heißt es im Gutachten. Die hohen Gaspreise kehren den Instituten zufolge vorerst nicht auf ihr altes Niveau zurück. „Das bedeutet einen Wohlstandsverlust der deutschen Bevölkerung, den die Wirtschaftspolitik nicht ausgleichen kann“, sagte Schmidt. So falle die Wirtschaftskraft 2022 und 2023 insgesamt um 160 Milliarden Euro niedriger aus, als noch im Frühjahr erwartet. Im April habe man für 2022 noch mit einem Wachstum von 2,7 Prozent und 2023 von 3,1 Prozent gerechnet.
Die Institute werfen der Europäischen Zentralbank (EZB) vor, sie habe ihre Zinswende zu spät eingeleitet und müsse nun stärker nachlegen als am Finanzmarkt erwartet. „Die EZB hat sehr lange Vollgas gegeben“, sagte Kooths mit Blick auf die lockere Geldpolitik zur Unterstützung der Konjunktur. „Sie erinnert jetzt eher an jemanden, der innerorts mit 90 (Kilometer pro Stunde) geblitzt wird und dann straf mindernd geltend macht, er hätte doch schon auf der Bremse gestanden.“
Wegen der anstehenden Rezession und explodierender Energiepreise forderte der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) entschlossenes Handeln der Regierung. „Alle Kraftwerke, die Energie liefern können, müssen ans Netz und bis zum Ende der Energiekrise am Markt bleiben“, sagte DIHK-Hauptgeschäftsführer Martin Wansleben. Der Deutsche Gewerkschaftsbund appellierte an Bundesfinanzminister Christian Lindner, die Schuldenbremse auch 2023 auszusetzen und den „Kürzungskurs“ zu verlassen. „Er darf Deutschland nicht in die Krise sparen“, sagte DGB-Vorstand Stefan Körzell und mahnte weiter gezielte Entlastungen für die Bevölkerung an.
Die Gemeinschaftsdiagnose stammt vom RWI, Münchner Ifo, Kieler IfW und dem IWH aus Halle. Das Berliner DIW will 2023 wieder am Gutachten mitarbeiten. Das Papier dient als Grundlage für die Konjunkturprognose der Regierung, die wiederum als Basis für die Aufstellung der Haushalte der öffentlichen Hand gilt.
Institute erwarten Rezession – schlimmstenfalls acht Prozent Einbruch
Quelle: Reuters
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