Kiew/Moskau/Berlin/Washington, 26. Feb (Reuters) – Russland hat seine Angriffe auf die Ukraine den dritten Tag in Folge fortgesetzt. Die Hauptstadt Kiew war am Samstag nach Angaben von Präsident Wolodymyr Selenskyj weiter unter Kontrolle seiner Regierung. „Wir haben den Mut, unser Heimatland und Europa zu verteidigen“, sagte der 44-Jährige in einer Videobotschaft.
Die russische Führung drohte westlichen Staaten mit Vergeltung für die von ihnen verhängten Sanktionen. Der Vizevorsitzende des Nationalen Sicherheitsrats und frühere Präsident, Dmitri Medwedew, brachte einen Abbruch der diplomatischen Beziehungen und einen Ausstieg aus internationaler Rüstungskontrolle ins Spiel. Auch eine Beschlagnahme westlicher Vermögenswerte sei möglich.
Die Militäroperation in der Ukraine werde fortgesetzt, bis die von Präsident Wladimir Putin ausgegebenen Ziele erreicht seien. Putin spricht von einer „militärischen Spezialoperation“ zur „Entmilitarisierung und Entnazifizierung“ der Ukraine. In der Debatte über einen Ausschluss Russlands aus dem Zahungssystems Swift bröckelte der Widerstand weiterer Länder.
„Wir haben den feindlichen Angriffen widerstanden und wehren sie erfolgreich ab“, sagte Selenskyj in einer über die sozialen Medien verbreiteten Videobotschaft. „Die Kämpfe gehen weiter.“ Das britische Verteidigungsministerium erklärte, das ukrainische Militär leiste im ganzen Land Widerstand und berief sich auf Geheimdienstinformationen.
Russland habe bisher nicht die Kontrolle über den ukrainischen Luftraum erlangt. Auch nach Darstellung der USA stießen die russischen Streitkräfte in der Ukraine auf hartnäckingen Widerstand. Die Regierung in Moskau hingegen erklärte, Putin habe wegen möglicher Gespräche mit der Regierung in Kiew am Freitag eine Unterbrechung des Truppenvormarschs angeordnet. Dieser sei am Samstag fortgesetzt worden. Das ukrainische Präsidialamt wies diese Darstellung zurück.
In Kiew heulten am Samstag wieder die Sirenen, um die Bewohner der Millionenstadt vor Luftangriffen zu warnen. Bürgermeister Vitali Klitschko erklärte, die U-Bahn habe den Betrieb eingestellt, die Stationen dienten als Luftschutzbunker.
Klitschko verhängte eine Ausgangssperre für den Zeitraum von Samstagabend bis Montagfrüh. In der Nacht zu Samstag waren nach Angaben des Bürgermeisters 35 Menschen verletzt worden, darunter zwei Kinder. Schwere Kämpfe wurden aus Charkiw im Osten des Landes gemeldet.
Russische Streitkräfte brachten einem russischen Agenturbericht zufolge die Stadt Melitopol unter ihre Kontrolle. Dies wurde von Großbritannien in Zweifel gezogen. Melitopol liegt zwischen den Separatistengebieten in der Ostukraine und der von Russland annektierten Krim.
WEITERHIN KEINE VERHANDLUNGEN ZWISCHEN MOSKAU UND KIEW
Trotz Bekundungen auf ukrainischer wie auf russischer Seite, man sei gesprächsbereit, kam es zunächst nicht zu Verhandlungen beider Seiten. Ein Berater des ukrainischen Präsidenten verwehrte sich gegen den Vorwurf aus Moskau, die Ukraine verweigere Verhandlungen. Der massive Beschuss ukrainischer Städte solle das Land aber dazu zu zwingen, inakzeptable Bedingungen zu hinzunehmen.
Medwedew schrieb im russischen Online-Netzwerk VK, die Sanktionen des Westens seien ein Zeichen für die Machtlosigkeit des Westens. Es sei an der Zeit, die Botschaften abzusperren, erklärte Medwedew. Auf die westlichen Sanktionen werde Russland mit gleichwertigen Maßnahmen reagieren, indem die Vermögenswerte von Ausländern in Russland eingefroren würden.
Nach einem monatelangen Truppenaufmarsch an der Grenze zur Ukraine hatte Russland am Donnerstag Angriffe auf die benachbarte Ex-Sowjetrepublik gestartet und damit weltweit Entsetzen ausgelöst. Die Ukraine hatte wiederholt die Hoffnung auf eine Aufnahme in EU und Nato geäußert. Zuletzt hatte die Regierung jedoch erklärt, sie sei auch zu Verhandlungen über eine Neutralität des Landes bereit. Putin wirft dem Westen vor, mit der Osterweiterung der Nato Sicherheitsbedenken Russlands ignoriert zu haben. Der Ukraine spricht er ab, ein legitimer Staat zu sein.
SANKTIONEN GEGEN PUTIN UND LAWROW – SWIFT UMSTRITTEN
Die USA, die EU, Großbritannien, Japan und weitere Länder haben eine Reihe von Sanktionen gegen Russland beschlossen, zuletzt auch gegen Präsident Putin und Außenminister Sergej Lawrow. Die westlichen Staaten ringen zudem um weitere Vergeltungsmaßnahmen.
Gegen einen Ausschluss Russlands aus dem globalen Zahlungssystem Swift gab es aber noch Vorbehalte. Laut der ukrainischen Regierung haben Italien und Frankreich Unterstützung für einen Ausschluss Russlands aus Swift signalisiert. Nach Angaben der Bundesregierung vom Freitag hatten neben Deutschland auch diese beiden Länder Bedenken gegen einen solchen Schritt.
Der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki forderte Bundeskanzler Olaf Scholz zur härtere Maßnahmen gegen Russland auf. Morawiecki nannte vor einem Treffen mit Scholz neben einem Swift-Ausschluss auch das Aus für beide Ostsee-Gaspipelines Nord Stream 1 und Nord Stream 2.
„Ich bin nach Berlin gekommen, um an das Gewissen Deutschlands zu appellieren, damit es endlich wirklich harte Sanktionen beschließt, die die Entscheidungen des Kreml beeinflussen“, sagte Morawiecki.
Nord Stream 1 ist seit rund einem Jahrzehnt ein wichtiger Strang für die Gasversorgung Deutschlands. Eine Inbetriebnahme von Nord Stream 2 hat Deutschland bereits auf Eis gelegt.
Deutschland bereitet die Genehmigung einer Lieferung von 400 Panzerfäusten durch einen Drittstaat an die Ukraine vor, wie das Verteidigungsministerium erklärte und damit einen Reuters-Bericht bestätigte. Das ist eine Kehrtwende, nachdem Kanzler Olaf Scholz bisher eine Lieferung tödlicher Waffen an die Ukraine ausgeschlossen hatte.
WESTLICHE GEHEIMDIENSTE: RUSSLAND VON WIDERSTAND ÜBERRASCHT
In westlichen Geheimdienst- und US-Regierungskreisen hieß es, die russischen Kräfte seien bei der Invasion auf stärkeren Widerstand der Ukrainer gestoßen als erwartet. Laut der Ukraine wurden mehr als 1000 russische Soldaten getötet. Russland gibt keine Opferzahlen bekannt.
Nach Angaben des Gesundheitsministeriums in Kiew wurden seit Beginn der Invasion am Donnerstag mindestens 198 Ukrainer, darunter drei Kinder getötet. Mehr als 1100 Menschen – davon 33 Kinder – seien verletzt worden, erklärte das Ministerium laut der Nachrichtenagentur Interfax. Es blieb unklar, wie viele Zivilisten insgesamt unter den Opfern waren.
Inzwischen haben sich Hunderttausende Ukrainer auf die Flucht begeben. Allein in Polen trafen seit Donnerstag rund 100.000 Menschen ein, wie die Regierung in Warschau mitteilte. Dabei spielten sich an den Grenzen dramatische Szenen ab, weil ukrainischen Männern im wehrfähigen Alter die Ausreise verboten ist und weil Kinder mitunter in der Obhut von Fremden zu Verwandten im Ausland geschickt werden.
Ukraine unter Beschuss – Russland verschärft Rhetorik
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Wichtige Entwicklungen zur Ukraine.