Solotschiw, 12. Sep – Die Ukraine treibt nach den jüngsten militärischen Erfolgen ihre Gegenoffensive weiter voran und meldet neben dem Großraum Charkiw auch zunehmend Erfolge im Süden des Landes. Binnen 24 Stunden seien mehr als 20 russisch-besetzte Ortschaften im Nordosten zurückerobert worden, teilte der Generalstab am Montag mit. Die Soldaten seien dabei, die Städte und Dörfer vollständig unter ihre Kontrolle zu bringen. In sozialen Medien war vielfach zu sehen, wie die Bewohner die einrückenden ukrainischen Soldaten freudig empfingen. Die russischen Streitkräfte reagierten mit Raketenbeschuss und haben es nun offenbar vor allem auf die Infrastruktur – etwa Kraftwerke – abgesehen.
Das britische Verteidigungsministerium erklärte in seinem täglichen Lagebericht, der sich auf Geheimdiensterkenntnisse stützt, Russland habe wahrscheinlich den Abzug seiner Truppen aus dem gesamten zuvor besetzten Gebiet westlich des Flusses Oskil in der Region Charkiw befohlen. Tausende russische Soldaten hatten angesichts des überraschend schnellen Vormarsches der ukrainischen Truppen ihre Stellungen zuletzt aufgegeben und dabei große Mengen an Munition und Ausrüstung zurückgelassen. Witali Gantschew, ein von Russland eingesetzter Statthalter in den besetzten Gebieten Charkiws, räumte am Montag im staatlichen russischen Fernsehen ein, dass die Ukrainer Siedlungen im Norden der Region erobert hätten.
Sie seien mit acht Mal mehr Soldaten angerückt als Russland zusammen mit seinen prorussischen Verbündeten in dem Gebiet stationiert gehabt habe, sagte Gantschew. „Die Lage wird von Stunde zu Stunde schwieriger.“ Man habe etwa 5000 Zivilisten nach Russland in Sicherheit gebracht. Die ukrainische Grenze zur russischen Region Belgorod sei inzwischen geschlossen. Die Angaben ließen sich unabhängig nicht überprüfen. Russland hatte am Wochenende einige seiner schwersten Rückschläge in dem seit mehr als einem halben Jahr andauernden Krieg zugefügt bekommen. Entscheidende Nachschubdrehkreuze mussten aufgegeben werden.
Nach Angaben des ukrainischen Militärs konnten seit Anfang September mehr als 3000 Quadratkilometer besetzten Gebiets zurückerobert werden. Vor allem rund um die zweitgrößte ukrainische Stadt Charkiw habe es Geländegewinne gegeben. Im Süden hat das ukrainische Militär nach eigenen Angaben rund 500 Quadratkilometer im Zuge seiner Gegenoffensive zurückerobert. Auf verschiedenen Abschnitten seien die Truppen etliche Kilometer vorgerückt, sagte die Sprecherin des südlichen Militärkommandos, Natalia Humeniuk. Fünf Siedlungen seien in der Region Cherson zurückerobert worden.
STROMVERSORGUNG NACH AUSFALL IN CHARKIW WIEDER HERGESTELLT
Im Zuge des Rückzugs feuerte Russland nach ukrainischen Angaben am Sonntag auf Kraftwerke, was zu großflächigen Ausfällen der Strom- und Wasserversorgung in Charkiw und angrenzenden Regionen geführt habe. Präsident Wolodymyr Selenskyj warf Russland vor, als Vergeltung für die Erfolge bei der ukrainischen Gegenoffensive gezielt die zivile Infrastruktur des Landes zu attackieren. „Keine Militäreinrichtungen. Das Ziel ist es, den Menschen Licht & Wärme zu berauben“, schrieb er auf Twitter.
Sein Berater Mychajlo Podoljak teilte mit, dass in Charkiw eines der größten Kraftwerke des Landes getroffen worden sei. Das sei „die Reaktion eines Feiglings“ auf die Flucht seiner eigenen Armee vom Schlachtfeld. Nach Angaben des Bürgermeisters war die Strom- und Wasserversorgung von Charkiw am Montagmittag erneut unterbrochen. „Die Lage der letzten Nacht wiederholt sich“, teilte Ihor Terechow mit. Bereits am Sonntag hatten die ukrainischen Behörden großflächige Ausfälle von Strom- und Wasserversorgung gemeldet. Russland äußerte sich nicht zu den Vorwürfen.
MÖGLICHER DURCHBRUCH
Selenskyj sprach in einem am Freitag aufgezeichneten CNN-Interview von einem möglichen Durchbruch in dem Krieg. Das britische Verteidigungsministerium erklärte am Montag, die schnellen Erfolge der ukrainischen Streitkräfte hätten erhebliche Auswirkungen auf die gesamten operativen Pläne Russlands. Im Süden nahe Cherson habe das russische Militär zudem offenbar damit zu ringen, ausreichend Nachschub über den Fluss Dnjepr an die Front zu bringen.
Der ukrainische Verteidigungsminister Olexij Resnikow sagte der „Financial Times“, die Offensive laufe weitaus besser als erwartet. Sie sei wie ein Schneeball, der einen Hang runterkugele. „Das ist ein Zeichen, dass Russland besiegt werden kann.“ Wichtig sei jetzt, das zurückeroberte Gebiet zu sichern gegen einen möglichen Gegenangriff russischer Truppen auf die ausgedünnten ukrainischen Nachschublinien. Selenskyj sagte in dem CNN-Interview, im Winter könnten die ukrainischen Streitkräfte weitere Geländegewinne erzielen, falls Kiew mehr leistungsstarke Waffen erhalte.
Angesichts der militärischen Erfolge der Ukraine hatten sich zuletzt auch in Deutschland Stimmen gemehrt, der Regierung in Kiew weitere schwere Waffen zu liefern, inklusive Kampfpanzern wie den Leopard 2 aus deutscher Fertigung. Bundeskanzler Olaf Scholz schloss ein Alleingang Deutschlands in dieser Frage aber am Montag erneut aus.
Ukraine treibt Offensive voran – „Russland kann besiegt werden“
Quelle: Reuters
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