Overschild, 18. Mrz (Reuters) – Seit Jahren haben sich Jannie und Bert Schrage für die Stilllegung von Europas größtem Erdgasfeld eingesetzt, über dem sie nahe der niederländischen Stadt Groningen leben. Durch die Gasförderung ausgelöste Erdbeben hatten am Haus der Schrages so starke Schäden verursacht, dass es abgerissen werden musste und gerade erst 2021 wiederaufgebaut wurde.
Noch vor ein paar Wochen ging das Rentner-Ehepaar mit Tausenden Gleichgesinnten gegen Gas aus Groningen auf die Straße. Doch der Krieg in der Ukraine, der Europa die Abhängigkeit von russischem Erdgas vor Augen geführt hat, löste bei den Schrages – wie laut Umfragen bei vielen in Groningen – ein Umdenken aus: Jetzt könnten sie sich vorstellen, dass noch mehr Gas vor ihrer Haustür gefördert wird.
„Ich hätte niemals gedacht, dass mir das über die Lippen kommt“, sagt Bert Schrage, ein ehemaliger Lehrbeauftragter der Uni Groningen. „Putin hat es geschafft, meine Meinung zu ändern.“ Von ihrem Geld für den Ruhestand mussten sie 25.000 Euro abzweigen, um den Wiederaufbau ihres Hauses ganz zu Ende zu bringen. Entschädigungen waren lange ein Streitpunkt. Jetzt fordern die Schrages vom Staat, dass er für sämtliche Kosten aufkommt, sollte es bei einer verstärkten Förderung wieder zu verheerenden Rissen im Gemäuer kommen. Doch die Schäden selbst würden sie in Kauf nehmen.
Der russische Präsident Wladimir Putin bezeichnet das Vorgehen in der Ukraine als Spezialoperation mit dem Ziel, militärische Kapazitäten im Nachbarland zu zerstören sowie als gefährlich eingestufte Nationalisten festzunehmen. Bei den Kämpfen wurden Tausende Menschen getötet, Millionen flüchteten aus der Ukraine. Unterdessen strömt weiter russisches Gas nach Europa, das hier 40 Prozent der Gesamtversorgung ausmacht.
SO VIEL GAS WIE RUSSLAND IN DREI JAHREN NACH EUROPA SCHICKT
Das förderfähige Vorkommen im Gasfeld Groningen umfasst rund 450 Milliarden Kubikmeter. Damit lagert im Norden der Niederlande ein Volumen, das fast den europäischen Importen von russischem Gas über drei Jahre entspricht, wie Gas-Experte Rene Peters von der Niederländischen Organisation für angewandte Wissenschaften erklärt. Sollte Putin bei der Hauptgasleitung Nord Stream 1 den Hahn zudrehen, könnten Deutschland, Belgien und Nordfrankreich teilweise Ersatz aus Groningen bekommen. Das 1959 entdeckte Gasfeld ist eines der größten weltweit. Über Jahrzehnte wurden die Niederlande mit Gas aus Groningen versorgt. Zwischen 2000 und 2018 hat das Land laut amtlichen Statistiken Gas im Wert von gut 200 Milliarden Euro nach Deutschland, Belgien und Frankreich exportiert.
Doch wissenschaftliche Gutachten belegen, was langjährige Gegner der Gasförderung schon lange gesagt haben: Das Pumpen kann Erdbeben auslösen. Bürgerrechtsgruppen gingen gegen die Förderung vor und kämpften für Entschädigungszahlungen, 2015 erkannten die Behörden das Sicherheitsrisiko an. Drei Jahre später gab es eine Einigung des Betreiberkonsortiums aus Shell und Exxon sowie dem niederländischen Staat zu Entschädigungszahlungen.
UMFRAGE: 61 PROZENT IN GRONINGEN FÜR MEHR GASFÖRDERUNG
Das Risiko durch die Gasproduktion wird längst nicht mehr offiziell infrage gestellt, das Feld soll spätestens 2024 geschlossen werden. Die zuständige Aufsichtsbehörde bekräftigte erst kürzlich, dass selbst eine Förderung im geringen Umfang die Erdbebengefahr erhöhe. „Solange die Menschen in Groningen einem höheren Risiko ausgesetzt sind zu sterben, weil Häuser einstürzen oder größere Erdstöße vorkommen könnten, muss die Förderung auf null heruntergefahren werden“, sagt der Chefinspekteur der Bergbauaufsicht, Theodor Kockelkoren.
Und auch viele Einwohner Groningens sind weiter der Meinung, dass kein Gas mehr gepumpt werden sollte. In der Mehrheit sind sie aber nicht mehr: Vielmehr sagten bei einer Umfrage der Zeitung „Dagblad van Noorden“ 61 Prozent, sie würden eine umfangreichere Förderung unterstützen, wenn so die Abhängigkeit von russischem Gas gedrosselt werden könnte. Bis zu 20 Prozent des in den Niederlanden verbrauchten Erdgases kommen aus Russland. Der Sinneswandel in Groningen spiegelt Reaktionen auf die russische Invasion der Ukraine wider, die in mehreren Ländern zu Kursänderungen in der Energiepolitik geführt haben.
Die niederländische Regierung hat ihre Pläne zur Einstellung der Produktion in Groningen zwar erst kürzlich bekräftigt. Gleichzeitig hat sie aber eingeräumt, dass auch wegen des Ukraine-Kriegs das Feld Groningen notfalls doch noch wieder angezapft werden könnte. Dabei hatte noch im Januar Medienberichten zufolge eine Anfrage Deutschlands, mehr Gas aus den Niederlanden geliefert zu bekommen, für Unmut gesorgt.
Im 500-Einwohner-Dorf Overschild müsse fast jedes Haus vollständig saniert oder gleich neugebaut werden, sagt Bert Schrage über seinen Wohnort rund 45 Kilometer von der deutschen Grenze entfernt. In seiner eigenen Straße reihen sich Baustellen und verlassene Häuser aneinander. „Unser ganzer Ort ist auf den Kopf gestellt worden“, sagt er. „Aber wenn wir etwas dafür tun können, um den Krieg in der Ukraine zu stoppen, dann müssen wir das tun.“
Ukraine-Krieg bringt Niederländer bei Erdgas-Förderung zum Umdenken
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Wichtige Entwicklungen zur Ukraine.