Tiflis/Helsinki/Brüssel, 22. Sep – Nach der Teilmobilmachung in Russland mehren sich die Zeichen für eine Absetzbewegung von Russen im wehrfähigen Alter. Nach einem Run im Internet auf Flugtickets ins Ausland berichtete der Grenzschutz des EU-Landes Finnland am Donnerstag über vermehrte Einreisen von Russen. Auch an der Grenze zu Georgien bildeten sich lange Autoschlangen. In Brüssel erklärte die EU-Kommission, die EU-Mitglieder sollten sich auf eine einheitliche Linie für den Umgang mit Flüchtlingen aus Russland einigen. Seit dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine am 24. Februar hätten schon eine halbe Million Russen ihre Heimat verlassen, sagte Kommissionssprecher Peter Stano. Die Regierung in Moskau bezeichnete Berichte über eine Fluchtbewegung als übertrieben.
Der Grenzverkehr habe sich in der Nacht zu Donnerstag verstärkt, sagte der Chef der finnischen Grenzschutz-Abteilung für internationale Angelegenheiten, Matti Pitkaniitty. Bereits am Mittwoch – dem Tag, als die Teilmobilmachung am Morgen bekanntgegeben worden war – hatte der Grenzschutz mit etwas mehr als 4800 Personen, die aus Russland über die Grenze im Osten Finnlands gekommen waren, deutlich mehr Einreisen verzeichnet als eine Woche zuvor. Direktflüge von Moskau nach Istanbul in der Türkei und Eriwan in Armenien – wohin visumfreie Ausreisen erlaubt sind – waren im Internet ausverkauft. Die Preise für andere Flüge stiegen stark an.
Der EU-Kommissionssprecher erklärte, dass die 27 Mitgliedstaaten Anträge einreisender Russen von Fall zu Fall unter Berücksichtigung der Grundrechte und der Rechtsvorschriften für Asylverfahren prüfen müssten. Die Einreise ist unter den EU-Ländern umstritten. Lettland hatte bereits erklärt, dass Russen die Einreise verweigert werde. Justizminister Marco Buschmann (FDP) hatte dagegen getwittert, dass man fliehende Russinnen und Russen aufnehmen werde.
UNION: AUF AUFNAHME VON KRIEGSDIENSTVERWEIGERERN VORBEREITEN
Die Union forderte die EU auf, sich rasch auf die Aufnahme russischer Kriegsdienstverweigerer vorzubereiten. Der Außenexperte der Bundestagsfraktion, Jürgen Hardt (CDU), sagte der „Rheinischen Post“ laut Vorabbericht, vom Vorgehen des russischen Präsidenten Wladimir Putin betroffen seien vor allem junge Männer. „Viele haben eine gute Ausbildung und deshalb sicher auch eine Perspektive auf den EU-Arbeitsmärkten.“
Putin hatte die erste Teilmobilmachung des Landes seit dem Zweiten Weltkrieg angeordnet. Verteidigungsminister Sergej Schoigu sprach von 300.000 Reservisten, die eingezogen werden sollen. Damit sollen die Verluste ausgeglichen werden, die die russische Armee in der Ukraine erlitten hat.
In mehreren russischen Städten kam es zu Protesten gegen die Teilmobilmachung. Die Sicherheitsbehörden gingen gegen die Demonstranten vor. Die unabhängige Protestbeobachtungsgruppe OVD-Info teilte mit, dass nach den von ihr gesammelten Informationen aus 38 russischen Städten bis zum späten Mittwochabend fast 1400 Menschen festgenommen worden seien. Betroffen waren mindestens 502 Personen in Moskau und 524 in St. Petersburg, der zweitgrößten Stadt Russlands. Der Sprecher des Präsidialamts in Moskau, Dmitri Peskow, wies zwar Berichte über einen Exodus wehrfähiger Männer zurück. Er dementierte aber nicht, dass bei Protesten gegen die Teilmobilmachung festgenommene Männer einen Einberufungsbescheid für den Einsatz im Ukraine-Krieg bekommen könnten. Die sei nicht illegal.
SELENSKYJ FORDERT VOR UN BESTRAFUNG RUSSLANDS
Der Ukraine-Krieg dominiert auch die Beratungen der UN-Vollversammlung in New York. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sagte in einer Videobotschaft, dass Russland wegen des Angriffs auf das Nachbarland sein Vetorecht im UN-Sicherheitsrat sowie sein Stimmrecht in UN-Organisationen verlieren sollte. Selenskyj verlangte zudem eine Bestrafung Russlands. „Es sollte ein Sondertribunal eingerichtet werden, um Russland für das Verbrechen der Aggression gegen unseren Staat zu bestrafen.“ Am Donnerstag will sich der UN-Sicherheitsrat mit dem Thema beschäftigen. Zu bedeutsamen Maßnahmen ist es bislang aber nicht gekommen, da Russland neben den USA, Frankreich, Großbritannien und China zu den fünf Mitgliedern mit Veto-Recht gehört.
Die EU will als Reaktion auf die Teilmobilmachung ihre Sanktionen gegen Russland verschärfen. Darauf hatten sich die Außenminister der 27 EU-Mitgliedsstaaten am Rande der UN-Vollversammlung in New York geeinigt. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell sagte, die Staaten hätten die politische Entscheidung getroffen, neue sektorspezifische und individuelle Maßnahmen zu ergreifen. Allerdings gab es sofort Widerspruch aus dem EU-Land Ungarn. Ministerpräsident Viktor Orban forderte die Aufhebung der EU-Sanktionen, wie ein Regierungssprecher bestätigte. Überraschend haben Russland und die Ukraine am Mittwoch Gefangene ausgetauscht. Dabei wurden rund 300 Personen an die jeweils andere Seite übergeben.
Einen Tag vor dem geplanten Beginn von Volksabstimmungen über einen Beitritt zu Russland erschüttern Explosionen Marktplätze in den betroffenen ukrainischen Provinzen. Sowohl in Donezk im Osten der Ukraine als auch in der Stadt Melitopol im Südosten gab es Tote. Vertreter Russlands und der Ukraine machten sich gegenseitig für die Explosion in Melitopol verantwortlich. Reuters konnte die Angaben nicht unabhängig überprüfen. In der Ukraine planen die prorussischen Kräfte für den 23. bis 27. September Volksabstimmungen in den Provinzen Luhansk, Donezk, Cherson und Saporischschja, die etwa 15 Prozent des ukrainischen Territoriums ausmachen. Bundeskanzler Olaf Scholz und andere westliche Regierungschefs haben bereits mitgeteilt, dass das Ergebnis dieser Scheinreferenden völkerrechtswidrig sei und nicht anerkannt werde.
Schon eine halbe Million Russen haben Land verlassen
Quelle: Reuters
Titelfoto: Symbolfoto
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