Prag, 29. Aug – Bundeskanzler Olaf Scholz fordert eine radikale Reform der Europäischen Union, um das Bündnis um bis zu acht Staaten erweitern zu können. In einer europapolitischen Grundsatzrede in Prag schlug Scholz am Montag dabei etwa Mehrheitsentscheidungen in der Außen- und Steuerpolitik, eine neue Sitzverteilung im Europäischen Parlament, ein gemeinsames Luftverteidigungssystem in Nordeuropa und eine Reform der europäischen Schuldenregeln vor. „Die Bürgerinnen und Bürger erwarten eine EU, die liefert“, sagte er mit Blick auf die langwierigen Abstimmungsprozesse in der Staatengemeinschaft. In Prag erntete er aber sofort Widerspruch vom tschechischen Ministerpräsident Petr Fiala, der derzeit die EU-Präsidentschaft innehat.
Scholz sprach sich für eine deutliche Erweiterung der Union aus und sprach von 30 oder 36 Mitgliedern. Die Westbalkan-Staaten, die Ukraine, die Republik Moldau und „perspektivisch“ Georgien gehörten in die EU. Diese Erweiterung sei im Interesse der Europäer. „In diesen Tagen stellt sich erneut die Frage, wo künftig die Trennlinie verläuft zwischen diesem freien Europa und einer neo-imperialen Autokratie“, fügte Scholz mit Hinweis auf den russischen Angriff auf die Ukraine hinzu. Der Kanzler mahnte Geschlossenheit der Europäer an, weil sie nur so bestehen könnten.
Zudem schloss er sich den Vorschlägen von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron an, über die EU hinaus ein Gremium zu schaffen, in dem man sich mit Nicht-EU-Mitgliedern wie Großbritannien abstimmen kann. Scholz schlug Treffen auf Regierungschefebene ein- oder zweimal im Jahr vor. Dies dürfe aber kein Ersatz für den Beitritt weiterer Staaten sein. Macron sagte in Paris, es werde in den nächsten Wochen ein erstes Treffen in Prag geben, um seinen Vorschlag einer neuen europäischen politischen Gemeinschaft zu diskutieren.
WIDERSTAND KLEINER STAATEN ERWARTET
Die Vorschläge stießen aber sofort bei kleineren EU-Staaten wie Tschechien auf Widerstand. Ministerpräsident Fiala sprach auf Nachfrage mehrfach davon, dass seine Regierung „sehr zurückhaltend“ gegenüber Vorschlägen zur Abschaffung der Einstimmigkeit sei. Außerdem warf er Scholz indirekt vor, den falschen Zeitpunkt für seinen Vorstoß gewählt zu haben. Denn die tschechische Ratspräsidentschaft bemühe sich gerade darum, die Einheit der 27 EU-Staaten zu wahren. In dieser kritischen internationalen Situation eine kontroverse Diskussion über die EU-Reform zu eröffnen sei schwierig, sagte Fiala. Scholz betonte, dass er nicht mit schnellen Entscheidungen rechne.
Kleine EU-Staaten sollen nach Scholz‘ Vorstellungen zwar wie bisher einen eigenen EU-Kommissar oder eine EU-Kommissarin bestimmen können, aber etwa im europäischen Parlament würden sie deutlich an Gewicht verlieren. Denn Scholz schlug vor, dass das EP „unter Beachtung auch des demokratischen Prinzips, wonach jede Wählerstimme in etwa das gleiche Gewicht haben sollte“, reformiert werden soll. Davon dürfte ein großes Land wie Deutschland gegenüber kleineren Ländern wie etwa Luxemburg profitieren. Die bisherige Obergrenze von 751 Parlamentarierinnen und Parlamentariern dürfe auch bei der Erweitung auf 36 Staaten nicht überschritten werden.
Scholz mahnte aber, dass es keinen weiteren Wildwuchs von Staatengruppen geben dürfe, die bei bestimmten Themenfeldern vorangehen. In der Außen- und Steuerpolitik seien deshalb Mehrheitsentscheidungen für alle sinnvoll – obwohl dies manchmal auch für Deutschland zum Problem werden könnte.
Strittig dürfte gerade in Polen und Ungarn die Forderung des Kanzlers nach einer Koppelung der EU-Zahlungen an die Einhaltung der Werte der Staatengemeinschaft sein. „Sinnvoll scheint mir auch, Zahlungen konsequent an die Einhaltung rechtsstaatlicher Standards zu knüpfen“, sagte Scholz. „Denn die Rechtsstaatlichkeit ist ein Grundwert, der unsere Union einen sollte“, mahnte er.
VERTEIDIGUNG UND INDUSTRIE STÄRKEN
Zugleich plädierte der SPD-Politiker für eine sehr viel stärkere Verteidigungszusammenarbeit, forderte ein voll funktionsfähiges EU-Hauptquartier und bot eine zentrale deutsche Rolle bei der Organisation der Luftverteidigung in Nord- und Osteuropa an. Die geplante schnelle EU-Eingreiftruppe müsse 2025 voll einsatzfähig sein. Scholz stellte sich zudem hinter den französischen Vorschlag, eine „Koalition der Willigen“ für Auslandseinsätze zusammenzustellen.
Zugleich mahnte der Kanzler an, dass die europäischen Rüstungsindustrien enger zusammenarbeiten und die Zahl der Waffensysteme in den 27 EU-Mitgliedsstaaten reduziert werden müssten. In Anspielung auf die deutsche Debatte über Rüstungsexporte betonte Scholz, dass die nationalen Regelungen für Waffenexporte gerade bei Gemeinschaftsprojekten angepasst werden müssten.
Scholz will auch einen neuen Anlauf für eine gemeinsame EU-Migrations- und Asylpolitik starten. Es brauche sichere EU-Außengrenzen, ein gemeinsames Asylrecht, aber eben auch einen Verteilmechanismus für Flüchtlinge sowie verbindliche Abkommen mit den Herkunfts- und Transitländern von Migranten. „Kroatien, Rumänien und Bulgarien sollten Vollmitglieder im Schengen-Raum werden.
Scholz will EU mit Fundamentalreform fit für Erweiterung machen
Quelle: Reuters
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