Lwiw/Berlin, 13. Apr (Reuters) – Der abgesagte Besuch von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in Kiew sorgt für Missstimmung in Berlin. Bundeskanzler Olaf Scholz zeigte sich am Mittwoch „irritiert“ darüber, dass Steinmeier am Mittwoch nicht mit den Präsidenten von vier osteuropäischen Staaten nach Kiew reisen konnte. „Der Bundespräsident wäre gerne in die Ukraine gefahren“, sagte Scholz zu rbb-Inforadio. „Deswegen wäre es auch gut gewesen, ihn zu empfangen.“
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sagte am Abend nach dem Treffen mit den anderen Staatschefs: „Wir wurden bezüglich dieses Besuchs weder vom deutschen Präsidenten noch vom Amt des deutschen Präsidenten offiziell angesprochen.“ Zuvor hatte Selenskyjs Stabschef zwar die Absage dementiert. Eine mit der Planung vertraute Person sagte jedoch, das ukrainische Präsidialbüro habe der deutschen Botschafterin in Kiew am Dienstagnachmittag eine schriftliche Absage für den Besuch am Mittwoch übermittelt.
Scholz betonte, dass Deutschland die Ukraine weiter massiv im Krieg gegen Russland unterstützen werde und kündigte weitere Waffenlieferungen an. Ein schnelles EU-Ölembargo gegen Russland, das drei Ausschuss-Vorsitzende des Bundestages nach einer Ukraine-Reise gegenüber Reuters gefordert hatten, lehnte ein Regierungssprecher aber ab. Der russische Präsident Wladimir Putin sagte am Mittwoch, bei einem EU-Boykott seien Energieexporte leicht in andere Länder umzuleiten. Zugleich werde der Verbrauch an Öl, Gas und Kohle im Inland erhöht.
Die Präsidenten von Polen, Estland, Lettland und Litauen, die Steinmeier begleiten wollte, besuchten Kiew am Mittwoch. Die Gespräche würden sich darauf konzentrieren, wie die Zivilbevölkerung und das Militär in der Ukraine unterstützt werden könnten, sagte ein Sprecher des estnischen Präsidenten Alar Karis. Außerdem werde es um die Untersuchung möglicher Kriegsverbrechen durch die russischen Truppen gehen.
UKRAINISCHER WIDERSTAND IN MARIUPOL WANKT
Nach wochenlangen Angriffen durch russische Truppen scheint der ukrainische Widerstand in der belagerten südostukrainischen Stadt Mariupol zu wanken. Laut russischem Verteidigungsministerium ergaben sich 1026 ukrainische Soldaten, darunter 162 Offiziere. Von ukrainischer Seite wurde dies zunächst nicht bestätigt. In der Hafenstadt mit einst 400.000 Einwohnern warteten nach Angaben von Bürgermeister Wadym Boischenko immer noch 100.000 Menschen auf eine Evakuierung. Seit Tagen wird versucht, Hilfskonvois zu organisieren. Russland meldete am Abend die Einnahme des Handelshafens.
Russland hatte die Stadt mit anhaltenden Angriffen in Schutt und Asche gebombt. EU-Sicherheitsexperten halten es für unwahrscheinlich, dass es der ukrainischen Armee gelingen könnte, den russischen Belagerungsring um die eingeschlossene Stadt zu durchbrechen. Vor allem aus dem Osten der Ukraine wurden auch am Mittwoch wieder Angriffe der russischen Truppen gemeldet, die am 24. Februar in das Nachbarland einmarschiert waren.
Die finnische Ministerpräsidentin Sanna Marin sagte in Stockholm, dass das finnische Parlament kommende Woche über eine Nato-Mitgliedschaft des bisher neutralen EU-Landes debattieren werde. Eine Entscheidung werde in den kommenden Wochen fallen. Auch die schwedische Regierung wolle eine rasche Prüfung eines Nato-Beitritts, kündigte Ministerpräsidentin Magdalena Andersson an.
Putin hatte am Dienstag angekündigt, dass Russland seine Angriffe in der Ukraine fortsetzen werde, bis die militärischen Ziele erreicht seien. Das ukrainische Verteidigungsministerium erklärte am Mittwoch, dass Russland trotz der zahllosen Raketenangriffe noch über ein riesiges militärisches Reservoir verfüge. Zudem steige die Gefahr, dass Russland auch chemische Waffen einsetze. Ukraines Präsident Selenskyj warf Russland vor, auch Phosphorbomben eingesetzt zu haben. Unabhängig überprüfen ließen sich die Angaben zunächst nicht.
US-Präsident Joe Biden bezeichnete den Krieg in der Ukraine zum ersten Mal als Völkermord. „Ja, ich habe es Völkermord genannt, denn es wird immer deutlicher, dass Putin versucht, Ukrainer auszulöschen, und die Beweise häufen sich“, sagte Biden nach einer Rede im US-Bundesstaat Iowa zu Reportern. Die Bezeichnung Völkermord sei falsch und inakzeptabel, erklärte Putins Sprecher Dmitri Peskow.
Er warf der Regierung in Washington Scheinheiligkeit vor. „Das ist kaum hinnehmbar von einem Präsidenten der USA, ein Land, das in jüngster Zeit bekannte Verbrechen verübt hat.“ Biden hatte Putin zuvor wiederholt als Kriegsverbrecher tituliert. Hintergrund sind die sich häufenden Berichte über den Fund von Massengräbern und Erschießungen von Zivilisten in den von russischen Truppen geräumten Gebieten in der Ukraine sowie die Bombardierung von Wohngebieten. Russland weist Vorwürfe zurück, gezielt gegen Zivilisten vorzugehen.
Russland war am 24. Februar in das Nachbarland einmarschiert. Westliche Staaten und die Ukraine bezeichnen die russische Invasion als nicht provozierten Angriffskrieg. Russland spricht dagegen von einer Spezialoperation. Mehr als vier Millionen Menschen sind inzwischen ins Ausland geflohen. Zehntausende Menschen wurden getötet oder verletzt. Ein Viertel der ukrainischen Bevölkerung wurde durch massiven russischen Beschuss von Städten obdachlos.
Scholz „irritiert“ über Ukraine-Absage an Steinmeier
Copyright: (c) Copyright Thomson Reuters 2022
Titelfoto: Symbolfoto
Wichtige Entwicklungen zur Ukraine.