München, 19. Feb (Reuters) – „Cyberangriff“ – ruft der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, als sein Übersetzungsgerät auf der Münchener Sicherheitskonferenz plötzlich nicht mehr funktioniert. „Die Russen sind nicht da und sie sind doch da“, witzelt er. Damit sorgte ausgerechnet der Ukrainer für einen der wenigen lockeren Momente auf der Veranstaltung mit vielen Sicherheitsexperten und Repräsentanten, aber ohne russische Regierungsvertreter.
Ansonsten dominierte dort die Angst vor einem Krieg, ausgelöst durch ein immer offensiver auftretendes Russland. Es dämmert den Europäern, dass das Land unter Führung von Präsident Wladimir Putin längst auch in anderen Regionen an Einfluss gewinnt und zur Gefahr für europäische Interessen wird – während sich der Westen aus Krisengebieten wie Afghanistan und Mali zurückzieht.
Die Abwesenheit der russischen Regierungsvertreter in München wirkte symbolisch: Statt des üblichen Ost-West-Schlagabtausches bestärkten sich die westlichen Regierungen gegenseitig in ihrer Sorge und Geschlossenheit – während aus der gar nicht so fernen Ostukraine Eskalationssignale kommen. „Das war diplomatisches Schattenboxen“, sagt etwa Grünen-Co-Chef Omid Nouripour zu Reuters. „Russland sitzt nicht länger am Tisch, sondern steht an der Grenze zur Ukraine“, fasst der litauische Außenminister Gabrielius Landsbergis im Reuters-Interview die Lage zusammen.
WELCHE WELTORDNUNG?
Manche Osteuropäer kritisieren eine aus ihrer Sicht naive Sichtweise einiger Vertreter westlicher Länder, auch Deutschlands. Während Kanzler Olaf Scholz, aber auch US-Vizepräsidentin Kamala Harris eine regelbasierte Weltordnung beschwören, habe Russland diese doch längst zertrümmert, meint etwa Landsbergis. Russland habe schon mit dem Einmarsch in Georgien 2008 und der Annexion der Krim 2014 die Grenzen von Nachbarstaaten und damit die roten Linien überschritten. Die Nato hätte also längst ihre Ostflanke massiv verstärken sollen, weil Russland ohne große Folgen grundlegende Prinzipien wie die Souveränität von Staaten verletzt habe.
Allerdings geht das Problem mit Russland längst über einen möglichen Krieg in der Ukraine hinaus. „Auch wenn die dortige dramatische Lage derzeit alle Debatten dominiert: Die russische Außenpolitik ist seit geraumer Zeit in der Offensive und die Europäer im Rückzug“, sagte Daniela Schwarzer, Chefin der Open Society Foundation in Berlin, zu Reuters. „Amerikaner und Europäer hinterlassen zunehmend ein Vakuum, das Russland und andere begierig füllen.“
Gerade erst haben China und Russland eine gemeinsame Erklärung unterschrieben, in der sie eine „neue Ära“ in der Welt einleiten wollen. Gemeinsame Militärmanöver beider Länder gibt es mittlerweile bis in die Ostsee hinein. „Es gibt einen weltweiten Angriff auf unsere liberalen Demokratien“, konstatierte auch EU-Ratspräsident Charles Michel am Sonntag.
Prominentes Beispiel für den Rückzug des Westens ist der überhastete Abzug aus Afghanistan. Russland hat aber in den vergangenen Jahren auch systematisch an der Südflanke der EU Fuß gefasst – etwa mit Söldnern und Waffenlieferungen in Libyen. Paradebeispiel ist dabei Mali: Nach zwei Militärputschen in dem Sahel-Land verschlechtert sich die Zusammenarbeit mit Europäern, vor allem mit der früheren Kolonialmacht Frankreich, immer mehr.
Weil das malische Regime nun russische Söldner der Wagner-Gruppe zum eigenen Schutz und der schnellen Ausbildung von Soldaten anheuert, driften Europäer und Deutsche nach und nach aus allen Einsätzen in dem Land: Sie müssen zuhause rechtfertigen, warum man mit einer Militärjunta zusammenarbeiten soll, die keine demokratischen Ziele verfolgt – allein der Hinweis auf geostrategische Interessen reicht nicht mehr. Dabei warnte selbst Außenminister Annalena Baerbock am Wochenende, dass die westlichen Demokratien mit ihrem Rückzug aus einigen Regionen ein Vakuum für autoritäre Länder schafften.
Das Problem in der Konkurrenz mit Russland: Während der Westen um Prinzipien und Werte ringe, könne Putin ohne Hemmungen das Militär und ein ganzes Spektrum von Cyberangriffen bis zu Söldnertruppen nutzen, meint ein EU-Diplomat. „Und er hat keine Hemmungen, Gewalt einzusetzen.“ Gerade in diesen Graubereichen kann Russland ein offizielles Eingreifen solange dementieren wie gewünscht – wie 2014 beim Eingreifen der „grünen Männchen“ ohne nationale Hoheitszeichen auf der Krim. Moskau störe sich wie China zudem nicht an der Zusammenarbeit mit Kräften, die alles andere demokratisch sind, meint auch Schwarzer. „Autoritäre Regierungen können schnell entscheiden, ohne sich um Prinzipien kümmern zu müssen“, erläutert EU-Ratspräsident Michel den Unterschied.
SELBSTBESCHWÖRUNG DER EIGENEN STÄRKE
„Unlearning helplessness“ hieß deshalb provokativ eine Diskussion in München – die Selbsthilfegruppe verunsicherter Demokratien müsste sich angesichts der russischen militärischen Drohungen gegenseitig versichern, nicht hilflos zu sein. Die Hauptbotschaften sowohl von Kanzler Olaf Scholz und US-Vizepräsidentin Kamala Harris waren dieselben: Einheit und Geschlossenheit.
US-Außenminister Antony Blinken betätigte sich als psychologischer Coach eines an sich selbst zweifelnden Bündnisses: „Russland und China stehen zusammen für 20 Prozent des Welt-Bruttosozialprodukts – die USA und die EU aber für 45 Prozent, die G7-Partner sogar für mehr als 50 Prozent“, betonte er. Man sei also gar nicht schwach. Amerikaner und Europäer glauben an die Abschreckungskraft der angedrohten Wirtschafts- und Finanzsanktionen.
Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg wies darauf hin, dass die russische Kalkulation auch militärisch nicht aufgehe: „Wenn Russland weniger Nato an seinen Grenzen möchte, so wird es mehr Nato bekommen.“ Allerdings gilt der Schutz eben nur für die Mitglieder des Verteidigungsbündnisses – aber nicht für die vielen Länder, die nicht zum westlichen Klub gehören. Die bittere Botschaft, die Selenskyj in München auch von der US-Vizepräsidentin Harris zu hören bekam: Die Ukraine wird im Konfliktfall nicht militärisch verteidigt werden.
Schattenboxen mit Russland – Putin treibt Europäer mehrfach in die Defensive
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