Kiew/Moskau, 02. Mrz (Reuters) – Trotz zunehmender internationaler Isolierung treibt Russland die militärische Offensive in der Ukraine voran, stößt aber nach wie vor auf heftigen Widerstand. Am siebten Tag der Invasion konzentrierten sich die Kämpfe auf die südukrainische Stadt Cherson und nach wie vor auf die zweitgrößte Stadt des Landes Charkiw im Nordosten.
Auch die Hafenstadt Mariupol am Asowschen Meer lag unter Beschuss russischer Truppen. Aus Kiew wurden vereinzelte Angriffe gemeldet, in der Hauptstadt mit rund drei Millionen Einwohnern blieb die Lage angespannt. Der erwartete Großangriff der russischen Streitkräfte, die sich vor den Toren Kiews zusammengezogen haben, blieb zunächst aber aus.
Laut Bürgermeister Vitali Klitschko rücken die russischen Truppen immer weiter auf Kiew vor. „Wir bereiten uns vor und werden Kiew verteidigen!“ erklärte er in sozialen Medien. „Kiew steht und wird stehen.“ Zur Lage in Cherson meldete die Nachrichtenagentur RIA unter Berufung auf das Moskauer Verteidigungsministerium, die russischen Streitkräfte hätten die Stadt mit rund 250.000 Einwohnern eingenommen.
Die ukrainischen Behörden meldeten dagegen, Cherson sei von russischen Truppen vollständig umzingelt. „Die Stadt ist nicht gefallen, unsere Seite verteidigt sie weiter“, sagte Präsidentenberater Oleksij Arestowitsch. Cherson liegt nordwestlich der von Russland 2014 annektierten ukrainischen Halbinsel Krim.
In Charkiw im Nordosten wurden nach Angaben der Regionalverwaltung bei Bombenangriffen in den vergangenen 24 Stunden mindestens 21 Menschen getötet und 112 verletzt, am Mittwochmorgen meldeten die Behörden weitere vier Tote. Die Stadt mit rund 1,5 Millionen Einwohnern war bereits am Dienstag Ziel mehrerer Raketenangriffe. Im Stadtzentrum stürzte das brennende Dach einer Polizeiwache ein. „Wir haben niemals erwartet, dass das geschehen könnte: totale Zerstörung, Vernichtung, Völkermord am ukrainischen Volk“, sagte Bürgermeister Ihor Terechow. „Das ist unverzeihlich.“
WEITERE VERHANDLUNGEN UNKLAR
Auch Mariupol am Asowschen Meer lag nach Angaben des Bürgermeisters unter intensivem Beschuss. In der Stadt unweit der russischen Grenze spitzte sich die Lage seit Dienstagabend zu. Russischen Angaben zufolge war die Stadt umzingelt. Örtliche Behörden berichteten, es sei unmöglich, Verletzte aus der Stadt herauszubringen. Mariupol gilt als strategisch wichtiger Ort für Russland, das offenbar versucht, zwischen dem Kernland eine Landschneise zur Krim zu schlagen. RIA hatte am Dienstag unter Berufung auf das Verteidigungsministerium in Moskau berichtet, die ukrainischen Streitkräfte hätten keinen Zugang mehr zur Küste des Asowschen Meeres.
Bei der russischen Invasion sind nach Angaben des ukrainischen Rettungsdienstes bislang mehr als 2000 Zivilisten getötet worden. Hunderte Gebäude seien zerstört worden, darunter Krankenhäuser, Kindergärten und Wohngebäude, heißt es in einer Erklärung. „Jede Stunde verlieren Kinder, Frauen und Verteidigungskräfte ihr Leben.“ Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sagte, fast 6000 russische Soldaten seien in den sechs Tagen des Krieges getötet worden. Russland hat sich bislang nicht konkret zu den erlittenen Verlusten in dem Krieg geäußert.
Am Mittwoch schickte die Moskauer Regierung nach eigenen Angaben eine Delegation zur Fortsetzung der Verhandlungen mit ukrainischen Vertretern an die belarussischen Grenze. Selenskyj hatte aber bereits gesagt, Gespräche seien nur sinnvoll, wenn Russland vorher mit den Angriffen aufhöre. Ob die Verhandlungen weitergeführt werden, war zunächst unklar.
Hunderttausende Ukrainer sind mittlerweile vor den Kämpfen geflohen. Mehr als 450.000 Menschen sind seit Beginn der Invasion nach Polen gekommen, wie der stellvertretende Innenminister Pawel Szefernaker im Rundfunk sagte. Mehr als 113.000 Ukrainer sind seit Beginn der Invasion nach Rumänien geflohen, wie aus Daten der Grenzpolizei hervorgeht. Auch die Bundesregierung stellt sich auf die weitere Ankunft von Flüchtlingen ein, wie ein Sprecher des Bundesinnenministeriums in Berlin sagte. Seinen Angaben zufolge wurden bislang 5309 Einreisen von Ukrainern registriert, die tatsächliche Zahl könne aber höher liegen.
„DAS WÄRE IN DIESER SITUATION FALSCH“
Bundeskanzler Olaf Scholz betonte bei seinem Besuch in Israel, die Nato werde nicht militärisch in den Konflikt eingreifen. „Das wäre in dieser Situation falsch“, sagte Scholz bei seinem Antrittsbesuch bei Israels Ministerpräsident Naftali Bennett in Jerusalem. Man werde die Ukraine aber weiter unterstützen. Den russischen Präsidenten Wladimir Putin rief Scholz auf, sofort alle Kampfhandlungen zu stoppen. Es handele sich um eine sehr gefährlichen Situation. Der Westen zeige die „richtige Haltung zwischen Konsequenz und notwendiger Vorsicht“.
Der Krieg in der Ukraine war auch zentraler Gegenstand von US-Präsident Joe Bidens erster Rede zur Lage der Nation. Darin attackierte Biden den russischen Staatschef Putin scharf und stellte sich demonstrativ an die Seite der Ukraine. Putin setzte er mit einem Diktator gleich und drohte ihm mit Konsequenzen.
„Er hat keine Ahnung, was auf ihn zukommt.“ Selbst wenn Russland auf dem Schlachtfeld vorankommen sollte, werde Putin langfristig einen hohen Preis bezahlen. In seltener Einigkeit begleiteten Demokraten und oppositionelle Republikaner Bidens Rede mit stehendem Applaus.
Bundesaußenministerin Annalena Baerbock sagte in einer Dringlichkeitssitzung der UN-Generalversammlung in New York, zwar bekenne sich Deutschland zur Diplomatie und Suche nach friedlichen Lösungen. „Aber wenn unsere friedliche Ordnung angegriffen wird, müssen wir uns dieser neuen Realität stellen.“ Der Vollversammlung lag der Entwurf für eine Resolution vor, in dem Russlands Vorgehen verurteilt wird.
Darüber sollten die UN-Staaten im Lauf des Tages abstimmen. Eine Sprecherin des Auswärtigen Amtes sagte in Berlin, die Bundesregierung hoffe auf „ein breites Signal“ der Welt an Russland. Mit Spannung wurde vor allem das Abstimmungsverhalten Chinas erwartet.
Russland treibt Ukraine-Offensive voran – Kampf um Großstädte
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Wichtige Entwicklungen zur Ukraine.