Kiew/Mariupol/Berlin, 16. Apr (Reuters) – Gut sieben Wochen nach dem Einmarsch in die Ukraine verstärkt Russland Luftangriffe auf Großstädte. In Kiew und Charkiw schlugen am Samstag Raketen ein, während Ziele in Lwiw an der Grenze zu Polen von Kampfjets bombardiert wurden.
In der eingekesselten und weitgehend in Trümmern liegenden Hafenstadt Mariupol hielten ukrainische Soldaten die Stellung, wie die ukrainischen Behörden mitteilten. Reuters-Journalisten vor Ort bot sich in dem strategisch wichtigen Stahlwerk Iljitsch, das russische Truppen nach eigenen Angaben erobert haben, ein Bild der Verwüstung. In Berlin warf unterdessen der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk der Bundesregierung mangelnde Informationen bei der Aufstockung der Militärhilfen für sein Land vor.
Bei den Raketenangriffen auf Kiew wurde laut Bürgermeister Vitali Klitschko mindestens ein Mensch getötet. Ärzte kämpften zudem um das Leben mehrerer Verletzter, sagte Klitschko im ukrainischen Fernsehen. Russland sprach von einem Schlag gegen einen Rüstungsbetrieb. In Charkiw im Nordosten der Ukraine wurde nach Angaben der Behörden ebenfalls ein Mensch bei einem Raketenangriff getötet.
Wie der Gouverneur der Region auf Telegram mitteilte, gab es zudem 18 Verletzte. Die Region Lwiw wurde nach ukrainischen Angaben mit Marschflugkörpern angegriffen, die von in Belarus gestarteten Flugzeugen abgefeuert wurden. Im Osten der Ukraine wurden den Behörden zufolge bei russischen Angriffen mindestens zwei Zivilisten getötet und vier weitere verletzt.
REPORTER: TOTE ZIVILISTEN RUND UM STAHLWERK IN MARIUPOL
Wie viele Zivilisten seit der Invasion am 24. Februar insgesamt getötet wurden, lässt sich laut der Ukraine nicht beziffern. Die Zahl der Todesopfer wird jedoch allein in der besonders heftig umkämpften Stadt Mariupol auf Zehntausende geschätzt. Zu der Zahl der getöteten ukrainischen und russischen Soldaten machte Präsident Wolodymyr Selenskyj am Freitag im US-Sender CNN Angaben, die sich unabhängig aber nicht überprüfen lassen: Laut Selenskyj starben bisher 2500 bis 3000 ukrainische Soldaten, rund 10.000 wurden verletzt. Zugleich seien 19.000 bis 20.000 russische Soldaten getötet worden. Die Zahl weicht stark von den letzten offiziellen russischen Angabe ab. Bis zum 25. März waren laut Moskauer Regierung 1351 Soldaten getötet worden.
Zahlreiche Staaten sprechen von einem Angriffskrieg Russlands und von Verbrechen gegen ukrainische Zivilisten. Die Regierung in Moskau hingegen bezeichnet ihr Vorgehen als Sondereinsatz zur Entmilitarisierung und Entnazifizierung und weist Vorwürfe zurück, Zivilisten anzugreifen. Nach dem Rückzug russischer Truppen aus dem Großraum Kiew konzentriert sich das Militär auf die Eroberung von Gebieten im Süden und im Osten. Als Hauptziel gilt die Einnahme Mariupols. Dort fanden Reuters-Reporter auf dem Gelände des Stahlwerks Iljitsch keine ukrainischen Soldaten mehr vor, sondern nur noch Trümmer aus Beton und Stahl. In den Straßen um die Fabrik herum sahen sie mindestens ein halbes Dutzend getötete Zivilisten.
UKRAINE POCHT AUF LIEFERUNG SCHWERER WAFFEN
Die von Bundeskanzler Olaf Scholz durchgesetzte Aufstockung der militärischen Hilfen um zwei Milliarden Euro stieß in der Ukraine auf Kritik. Botschafter Melnyk erklärte dazu in der „Welt am Sonntag“: „Die Ankündigung über die Erhöhung der militärischen Ertüchtigungshilfe für die Ukraine klingt gut auf den ersten Blick. Allerdings wurde die ukrainische Regierung über die Einzelheiten gar nicht informiert“. Es habe keine Konsultationen gegeben.
„Wir wissen weder vom Umfang weiterer Waffenlieferungen, noch vom Verfahren oder Zeithorizont. Das alles bleibt nach wie vor im Dunklen.“ Die Regierung in Kiew habe zudem keine Zusage für schwere Waffen erhalten, die die Ukraine am meisten benötige.
Seit Tagen wird in der Regierungskoalition gestritten, ob Deutschland der Ukraine ausreichend hilft. Die Bundesregierung will aus Sicherheitsgründen nicht sagen, welches militärisches Gerät sie der Ukraine schickt. Der Grünen-Politiker Anton Hofreiter, der Scholz zuletzt heftig kritisiert hatte, sieht die neue Rüstungshilfe als Anfang. „Die Aufstockung ist ein erster guter Schritt, aber kann die direkte Lieferung von Waffen nicht ersetzen“, sagte der Vorsitzende des Europa-Ausschusses der „WamS“.
Der CDU-Außenexperte Norbert Röttgen wertete die angekündigte Aufstockung dagegen als einen Trick. „Das ist ein Vorschlag, der nicht der Ukraine helfen soll, sondern der Koalition, um im Streit über Waffenlieferungen eine gesichtswahrende Lösung zu finden“, sagte er dem Redaktionsnetzwerk Deutschland.
Das russische Außenministerium erließ unterdessen ein Einreiseverbot für den britischen Premierminister Boris Johnson. Auch Außenministerin Liz Truss, Verteidigungsminister Ben Wallace und zehn weitere britische Politiker dürfen nicht mehr nach Russland einreisen. Hintergrund der Maßnahme sei „das beispiellose unfreundliche Vorgehen der britischen Regierung, insbesondere die Verhängung von Sanktionen gegen hochrangige russische Vertreter“.
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