Berlin, 01. Jul (Reuters) – Seit Tagen versuchen die EU und Litauen einen Streit beizulegen, der durch einen teilweisen Stopp russischer Warenlieferungen in die russische Ostsee-Exklave Kaliningrad entbrannt ist. Zwischen dem EU-Land Litauen und Russland kochten die Emotionen hoch. Seither fürchten EU-Diplomaten eine Eskalation des Konflikts des Nato- und EU-Landes mit der atomaren Supermacht, die am 24. Februar die Ukraine angegriffen hat.
Aber Kaliningrad ist nicht der einzige Konfliktherd, den es mit Russland gibt, wenn es um russische oder russischsprachige Bevölkerung geht. Am Mittwoch drohte die Regierung in Moskau etwa auch Norwegen wegen einer angeblichen schlechten Behandlung von Russen auf Spitzbergen mit Vergeltung. Im Hintergrund stehe der von Präsident Wladimir Putin seit langem verkündete Anspruch, dass Moskau Menschen auch in anderen Staaten verteidigen will, „die russisch denken, sprechen und fühlen“, sagt der Russland-Experte Stefan Meister von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). Dies könne ein Einfallstor für Putin sein, Konflikte eskalieren zu lassen.
STREIT UM DIE EXKLAVE KALININGRAD
Der Streit zwischen Russland und Litauen betrifft das seit dem 17. Juni faktisch geltende Transitverbot bestimmter Waren in die russische Exklave. Im Transitverkehr hält Litauen Güter aus Russland wie Baumaterialien, Metalle und Kohle in die Exklave zurück, weil diese unter EU-Sanktionen fallen. Von dem Verbot betroffen ist die einzige Zugstrecke zwischen Russland und Kaliningrad – allerdings nicht der Luft- und Seeweg zum früheren ostpreußischen Königsberg.
EU und Litauen wollen einen Kompromiss bis zum 10. Juli erreichen – und alle, auch die Bundesregierung, versichern dem Partner volle Solidarität. Unter EU-Diplomaten heißt es aber gleichzeitig, dass die Angelegenheit unnötig eskalierte. „Denn niemand hatte die litauische Regierung aufgefordert, das EU-Sanktionsregime derart konsequent umzusetzen“, erläutert einer von ihnen. Der außenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Nils Schmid sagt diplomatisch: „Litauen hat das Recht, dass es die Sanktionen umsetzt. Aber auch der Appell etwa aus dem Europäischen Parlament zur Zurückhaltung ist richtig.“ EU-Diplomaten beklagen, dass die Regierung in Vilnius vor dem Schritt keinerlei Abstimmung suchte – wohl auch, weil man dort klar keinen Klärungsbedarf sah: „Sanktionen müssen durchgesetzt werden, und die getroffenen Entscheidungen dürfen die Glaubwürdigkeit und Wirksamkeit der EU-Sanktionspolitik nicht untergraben“, sagte eine Sprecherin des litauischen Außenministeriums.
„Alle kennen doch die Sensibilität Russlands bei Kaliningrad“, sagt Meister. „Die Russen sind geschwächt, aber sie werden sich nicht alles gefallen lassen.“ Das Problem sei nun eine gesichtswahrende Lösung für alle Seiten zu finden, sagt ein EU-Diplomat. Dabei sind sich die USA, Großbritannien, Frankreich und Deutschland in der Sache einig: Der Krieg mit der Ukraine ist schon dramatisch genug – man braucht nicht noch einen weiteren Konflikt. Kanzler Scholz wies nach dem Nato-Gipfel darauf hin, dass es hier ganz klar um eine Verbindung zwischen zwei russischen Landesteilen gehe. Die Lösung dürfte sein, dass die EU-Kommission nun feststellen wird, dass die Sanktionsauflagen nicht für einen Transit gelten.
RUSSEN AUF SPITZBERGEN
Ganz anders gelagert ist der Fall von wenigen hundert Russen, die auf der norwegischen Inselgruppe Spitzbergen leben. Diese haben durch einen bereits 1920 geschlossenen Vertrag das Recht, dort Bergbau zu betreiben – und werden auch aus Russland versorgt. Das Nato-Land Norwegen ist zwar kein EU-Mitglied, setzt aber die EU-Sanktionen gegen Russland um – und hat nun einen Teilstopp beschlossen. Eigentlich sollte der Warentransport per Schiff nach Spitzbergen nach norwegischen Angaben nicht beeinträchtigen werden. Aber ein Großteil der russischen Fracht für die Siedlungen des Archipels muss zunächst einen Kontrollpunkt auf dem norwegischen Festland passieren – das wiederum für sanktionierte Waren gesperrt ist. „Der Fall ist zwar keineswegs so gravierend wie Kaliningrad mit seiner auch militärischen Bedeutung für Russland“, meint DGAP-Experte Meister. Aber er trägt zur sich verschlechternden Stimmung auf allen Ebenen bei.
KASACHSTAN UND ANDERE EHEMALIGE SOWJETREPUBLIKEN
Ein ganz anderes Problem ist das der Russen, die in anderen Ländern – und vor allem ehemaligen Sowjetrepubliken – leben. Das betrifft sowohl das Baltikum, Moldau als auch Kasachstan. Während die drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen Mitglieder von EU und Nato sind und Moldau geografisch von Russland aus nicht gut zu erreichen ist, ist dies bei Kasachstan anders. „Es ist eindeutig, dass sich Kasachstan bedroht fühlt“, sagt Beate Eschment, Zentralasien-Expertin des Osteuropa-Instituts ZOIS. Das Land habe eine sehr lange Grenze mit Russland und eine russische Minderheit. Rund 18 Prozent der Bevölkerung des ölreichen Staates vor allem im Norden des Landes gehörten dazu. „Es gibt Duma-Abgeordnete, die Putin auffordern, mehr zum Schutz der russischen Minderheit in Kasachstan zu tun“, sagt Eschment.
„Ich kann mir vorstellen, dass Moskau die Rhetorik weiter verschärfen wird“, meint DGAP-Experte Meister. Denn Putin nutze die Politik zum angeblichen Schutz von Auslandsrussen, um andere Länder unter Druck zu setzen. Während sich Kasachstan dagegen wehrt, dass Russland russische Pässe austeilt, ist dies etwa in Moldau mit dem abtrünnigen Landesteil Transnistrien anders. Meister spricht von einer „Passportisierung“, bei der die Regierung in Moskau – auch in der Ostukraine und der zwischen Armenien und Aserbaidschan umstrittenen Region Berg-Karabach – russische Pässe austeilen lässt. Damit schaffe sie erst die Staatsbürger, die sie dann vorgebe, schützen zu wollen.
Kaliningrad, Spitzbergen, Kasachstan – Konfliktherde mit Russland
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Wichtige Entwicklungen zur Ukraine.