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StartPolitikHintergrund: Wie die Zeitenwende die deutsche Politik verändert hat

Hintergrund: Wie die Zeitenwende die deutsche Politik verändert hat

Berlin, 21. Feb – Als Bundeskanzler Olaf Scholz am Sonntag, den 27. Februar 2022, an das Rednerpult im Bundestag trat, war klar, dass etwas Besonderes passieren würde. „Wir erleben eine Zeitenwende. Und das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor“, sagte Scholz. Im Parlament herrschte eine fast mit Händen zu greifende Spannung, weil diese „Zeitenwende“ von fast allen empfunden wurde. Anlass für den ungewöhnlichen Auftritt war der russische Angriff auf die Ukraine drei Tage zuvor. Seither hat sich die deutsche Politik dramatisch verändert – unter anderem in diesen Bereichen: 

DIE NEUE LIEBE ZUR BUNDESWEHR

Am deutlichsten zeigte sich eine Veränderung im Umgang mit der Bundeswehr. SPD, Grüne und auch die Union hatten die Armee über viele Jahre als Steinbruch für Einsparungen angesehen. 2014 hatten Union und SPD dann unter Kanzlerin Angela Merkel wie andere Nato-Staaten nach der russischen Annexion der Krim den Hebel umgeworfen, der Etat stieg langsam wieder. Aber am 27. Februar vergangenen Jahres kündigte Scholz nicht nur einen 100 Milliarden Euro Sondertopf für die bessere Ausstattung der Bundeswehr an. Er sagte auch: „Wir werden von nun an Jahr für Jahr mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in unsere Verteidigung investieren.“ Seither hat sich die Debatte über die Bundeswehr total gedreht: Durch den Krieg und das Bedrohungsgefühl durch Russland gelten Sicherheitsausgaben nun als richtig und wichtig. Kritik gibt es nun daran, dass das Umsteuern zu langsam geht. 

DIE „GUTEN“ WAFFENEXPORTE

An einem anderen Punkt haben vor allem die Grünen eine 180-Grad-Wende hingelegt. Ihr Credo war in Oppositionszeiten, die deutschen Waffenexporte zu beschränken und dementsprechend verhandelten sie auch bei der Abfassung des Ampel-Koalitionsvertrages. Aber nach dem russischen Angriff begann Deutschland mehr und mehr Waffen an die Ukraine zu liefern – in ein Kriegsgebiet, was bisher als Tabu galt. In jeder Debatte über zusätzliche Waffensysteme für die Ukraine verweisen der Kanzler und andere deutsche Politiker darauf, welch weiten Weg Deutschland und die Ampel bei Rüstungsexporten tatsächlich seit dem Angriff Russlands gegangen sind.

DAS NEUE TEMPO BEI EU-BEITRITTEN

Grob gesagt gab es in der EU lange eine Arbeitsteilung: Frankreich dringt auf eine Vertiefung der Zusammenarbeit. Deutschland will sowohl eine größere Integration als auch eine Erweiterung der Gemeinschaft. Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine hat sich die Dynamik der Debatte entscheidend verändert, auch in Paris wird umgedacht. Bis zum 24. Februar 2022 galten die Aussichten Kiews auf einen EU-Beitritt in absehbarer Zeit als eher begrenzt. Aber bereits im Juni 2022 erhielt die Ukraine unter dem Eindruck des Krieges von der EU den Kandidatenstatus – als politische Unterstützung. Gleichzeitig beschleunigte sich der Beitrittsprozess mit den Westbalkan-Staaten, die seit langem von der EU vertröstet wurden. Auch die Republik Moldau bekam den Beitritts-Kandidatenstatus, Georgien wurde er in Aussicht gestellt. Scholz fordert, dass die EU-Staaten und die potenziellen Mitglieder enger zusammenrücken – auch durch die Aufnahme von Rumänien und Bulgarien in den Schengen-Raum.

DIE „GUTEN“ SCHULDEN

Auch in der Haushaltspolitik räumte der Krieg mit alten Positionen auf. Ausgerechnet FDP-Chef Christian Lindner, der vor Amtsantritt eine harte Finanzpolitik einforderte, musste seit Beginn der Legislaturperiode 500 Milliarden Euro neue Schulden aufnehmen – und sagte etwa mit dem 100-Milliarden-Euro-Topf einen neuen Schattenhaushalt zu. Im Kampf gegen die Energiekrise wurden zur Abmilderung der Folgen mit dem von Kanzler Scholz bezeichneten „Doppel-Wumms“ 200 Milliarden Euro bis 2024 zur Verfügung gestellt – ebenfalls als Sondertopf neben dem normalen Haushalt. 

DER STAAT ÜBERNIMMT TEILE DER ENERGIEVERSORGUNG

Bis zum Angriff auf die Ukraine dominierte in Deutschland eine deutliche Distanz zwischen Staat und Unternehmen auch im Energiebereich. Das hat sich gewandelt, weil man sich innerhalb kurzer Zeit aus einer Energieabhängigkeit von Russland lösen wollte. Beispielsweise hat die Bundesregierung den Betreibern von Gasspeichern mittlerweile staatliche Vorgaben zum Füllstand gemacht. Sie organisiert und finanziert den Aufbau von Flüssiggas-Terminals an der deutschen Küste mit. Der Staat wird zudem Stromnetzbetreiber, etwa durch die Übernahme der Deutschland-Sparte des niederländischen Stromnetz-Betreibers TennetIPO-TTH.AS – ganz nebenbei will die Regierung damit auch den Umbau der Netze auf klimafreundliche Energieträger forcieren. 

KOMPLETT ANDERE FLÜCHTLINGSDEBATTE

Auch die Migrationsdebatte hat sich völlig verändert – nicht nur, weil die Union nun in der Opposition ist. Der Ukraine-Krieg hat dafür gesorgt, dass 2022 rund 1,4 Millionen Flüchtlinge und Migranten nach Deutschland kamen, deutlich mehr als 2015. Doch weil mehr als eine Million davon Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine sind und die meisten Frauen mit Kindern, blieb eine aufgeheizte Debatte weitgehend aus. Die vor den russischen Angriffen fliehenden Menschen wurden vorbehaltlos aufgenommen. Erst die ebenfalls wachsende Zahl an Migranten und Flüchtlingen aus anderen Ländern hat die Debatte in den vergangenen Wochen wieder etwas verändert, weil Bund, Länder und Kommunen zunehmend mit der Unterbringung der Menschen zu kämpfen haben. Aber die Stimmung ist eine andere als 2015 – zumal sich in sehr vielen Wirtschaftsbereichen ein deutlicher Fachkräftemangel zeigt und nach Fachkräften aus dem Ausland gerufen wird. 

WAHLZIEL WOHNUNGSBAU KIPPT

Der Krieg sorgt dafür, dass auch an anderen Stellen die Regierungspolitik kippt oder sich verändert. So gesteht Bauministerin Klara Geywitz ein, dass das Ziel von 400.000 neuen Wohnungen derzeit nicht mehr erreichbar ist. Denn die Inflation hat die Preise enorm in die Höhe getrieben, es fehlen Materialien und Fachkräfte auf dem Bau. Gleichzeitig hat der Zuzug so vieler Menschen, die untergebracht werden müssen, aber den Mangel an Wohnraum und bezahlbaren Wohnungen gerade in Städten deutlich verschärft. 

PLANUNGSBESCHLEUNIGUNG

Es sind stets externe Schocks, die eine relativ verkrustete deutsche Bürokratie durcheinander wirbeln. Die deutsche Einheit brachte einen so großen Investitions-Nachholbedarf in Ostdeutschland, dass die komplizierten Regeln für Bauvorhaben für die neuen Bundesländer deutlich verkürzt wurden. Nun dient der Krieg in der Ukraine und die wirtschaftlichen Folgen als Begründung, warum das schwerfällige Planungs- und Genehmigungsrecht in Deutschland insgesamt auf Vordermann gebracht werden soll. Allerdings gibt es vor allem zwischen Grünen und FDP dabei Differenzen, ob Planungen im Verkehrsbereich generell beschleunigt werden sollen oder nicht. 

Hintergrund: Wie die Zeitenwende die deutsche Politik verändert hat

Quelle: Reuters

Symbolfoto: Bild von Elvira Groot auf Pixabay

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