Sonntag, September 15, 2024
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Analyse: Keine Gewissheiten mehr – Drei Lehren aus der Berlin-Wahl

Berlin, 02. Mrz – Als sich der Berliner SPD-Landesvorstand am Mittwochabend mit deutlicher Mehrheit für Koalitionsverhandlungen mit der CDU ausgesprochen hat, war bei vielen die Überraschung groß. Denn am Abend der Wiederholungswahl am 12. Februar klang es noch so, als ob SPD, Grüne und Linke am liebsten ihr bisheriges Bündnis fortsetzen würden. Aber dann zeigte sich, dass sich die politische Dynamik in dieser komplexen Berliner Lage ganz anders entwickelte, als viele Akteure und Beobachter dachten – was eine Blaupause für künftige Wahlen mit immer komplizierteren Mehrheitsverhältnissen sein könnte.

Auch in der Bundes-CDU galt vor der Berliner Wiederholungswahl als gesetzt, dass der eigene Spitzenkandidat Kai Wegner zwar ein gutes Ergebnis holen, aber keine Aussicht auf eine Regierungsbeteiligung haben dürfte. SPD und Grüne betonten im Vorfeld mit Blick auf den CDU-Vorsprung in Umfragen demonstrativ, dass ein Wahlsieger nicht automatisch die Regierung stellen müsse. 

Diese parteiübergreifende Einschätzung verstärkte sich nach der sogenannten Vornamen-Debatte, als die CDU-Berlin als Antwort auf die Silvesterkrawalle die Vornamen möglicher Straftäter abfragen wollte und damit eine Migrationsdebatte auslöste. Zwar könne dies der CDU am Stadtrand Stimmen bringen, aber als Koalitionspartner komme die Union damit nicht mehr infrage, lautete die Einschätzung auch in der Bundes-CDU. 

Davon ist aber plötzlich keine Rede mehr. Es gab in der Zwischenzeit friedliche Sondierungen der CDU sowohl mit den Grünen als auch der SPD: Und die SPD-Landesspitze stellte danach fest, dass die Schnittmengen mit der CDU einfach am größten seien – Vornamenstreit hin oder her. Der Preis ist allerdings, dass die CDU der SPD weit entgegenkommen muss – denn am Ende muss die SPD-Basis in Berlin dem ungeliebten Bündnis mit der CDU noch zustimmen. Das berge das Risiko, dass die Union etwa in der Wohnungspolitik Kompromisse eingehe, die ihr Profil als echte Alternative zu SPD, Grünen und Linken gefährdet, heißt es auch in der CDU.

SPD-LANDESCHEF: „ROT-GRÜN STEHT KULTURELL ZUSAMMEN“

Ein Bündnis mit der CDU galt schon deshalb als unwahrscheinlich, weil die Berliner Landesverbände von SPD und Grünen als links gelten – mit einer klaren Präferenz für die Fortsetzung von Rot-Grün-Rot. Auch SPD-Landeschef Raed Saleh betonte noch am Mittwochabend, dass sich SPD, Grüne und Linke „kulturell“ sicher am nächsten stünden. Aber die Koalitionsentscheidung hat dies überraschend wenig beeinflusst, obwohl die drei Parteien eine deutliche Mehrheit gehabt hätten. 

Zum einen brachen schon im Wahlkampf die inhaltlichen Differenzen durch, die wie in der Verkehr- und Wohnungspolitik als zunehmend unüberbrückbar gerade zwischen SPD und Grünen galten. Zum anderen rumste es atmosphärisch zwischen der Regierenden Bürgermeisterin Franziska Giffey und der grünen Spitzenkandidatin Bettina Jarasch. 

Die unterstellte größere Nähe zwischen SPD und Grünen schwand mit jedem Tag nach der Wahl etwas mehr – zumal es bei den Sozialdemokraten mit Blick auf den nur geringen Stimmenvorsprung schon am Wahlabend hieß, dass eine Juniorrolle unter der CDU erträglich wäre als eine unter den Grünen. 

Dazu kam eine von den Grünen offenbar unterschätzte Dynamik: In dem Maße, in dem die Partei angesichts der bis auf 53 Stimmen erreichten Stimmengleichheit eine (fast) gleiche Behandlung von der SPD einforderte, empörten sich die Sozialdemokraten. „In nahezu allen politischen Teilbereichen haben die Grünen erhebliche Zweifel an der Ernsthaftigkeit ihrer Verabredungsfähigkeit aufkommen lassen“, heißt es deshalb in dem SPD-Papier zu den Sondierungsergebnissen sehr harsch. 

Das Ergebnis: Die Grünen, die sich als Mit-Sieger der Wahl gefühlt hatten, machen plötzlich die bittere Erfahrung, dass sie wegen zu harter Forderungen etwa in der Verkehrspolitik zumindest in Berlin nicht mehr anschlussfähig bei SPD oder CDU sind. 

VORGEHEN GIFFEYS GILT ALS FINTENREICH

Als besonders fintenreich wird in der SPD das Vorgehen Giffeys beschrieben. Als Regierende Bürgermeisterin trägt sie die Verantwortung für das schlechteste SPD-Ergebnis in der Bundeshauptstadt – und hätte deshalb ihren Hut nehmen können. Aber während sie anfangs noch auf ihr Amt zu beharren schien, wechselte sie in den vergangenen Tagen plötzlich die Taktik. Am Mittwochabend bezeichnete sie ihr Votum für die CDU als „persönlichen Verzicht im Interesse meiner Partei“. Genau dies könnte ihr nun die Rolle einer „Super-Senatorin“ unter Kai Wegner sichern und damit die Chance, politisch zu überleben. 

Das Votum im SPD-Landesvorstand, das letztlich auch Giffey rettete, fiel auch deshalb so deutlich aus, weil die Juniorrolle als einzige Chance gesehen wurde, bei der Wahl 2026 überhaupt noch eine Chance auf einen Wiederaufstieg zu haben – anders als beim Gang in die Opposition oder als Führungs-Partei in einem rot-grün-rot-Bündnis, das von Anfang an den Stempel „Weiter so“ getragen hätte. Das Bündnis mit der CDU werde also als „kleineres Übel“ angesehen, sagte ein Vorstandsmitglied.

Analyse: Keine Gewissheiten mehr – Drei Lehren aus der Berlin-Wahl

Quelle: Reuters

Symbolfoto: Bild von Tumisu auf Pixabay

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