Berlin, 13. Jan – Trotz Inflation, Ukraine-Krieges und anhaltender Lieferprobleme ist die deutsche Wirtschaft im vergangenen Jahr gewachsen. Das Bruttoinlandsprodukt stieg um 1,9 Prozent, wie das Statistische Bundesamt am Freitag mitteilte. Von Reuters befragte Experten hatten lediglich mit 1,8 Prozent gerechnet. Sie sagten in ersten Reaktionen:
TIMO WOLLMERSHÄUSER, LEITER KONJUNKTURFORSCHUNG IFO:
Das deutsche Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist im abgelaufenen Jahr um 1,9 Prozent und damit deutlich stärker als im langjährigen Durchschnitt gewachsen. 2023 dürfte zunächst schwach starten. Die hohe Inflation und steigende Zinsen werden den privaten Konsum und die Bauproduktion voraussichtlich sinken lassen. Hingegen werden die hohen Auftragsbestände und nachlassende Engpässe bei Energie und Vorprodukten die Industriekonjunktur stützen. Insgesamt wird die Wirtschaftsleistung im ersten Quartal 2023 wohl geringfügig schrumpfen und im zweiten Quartal stagnieren. Erst im weiteren Verlauf des Jahres dürfte sich die Konjunktur erholen, weil die Inflationsraten spürbar sinken und die Einkommen kräftig steigen werden. Insgesamt wird die gesamtwirtschaftliche Produktion im Jahr 2023 damit voraussichtlich stagnieren.“
STEFAN KOOTHS, VIZEPRÄSIDENT IFW:
„Die deutliche Zunahme des BIP im abgelaufenen Jahr darf über die krisenbedingten Einbußen nicht hinwegtäuschen. Ohne Energiepreisschock und hartnäckige Lieferengpässe wäre ein doppelt so kräftiger Anstieg der Wirtschaftsleistung möglich gewesen. Der Spielraum für den weiteren Aufholprozess im vergangenen Jahr lag bei rund 4 Prozent. Dieser wurde bei weitem nicht erreicht.“
CHRISTOPH SWONKE, DZ BANK:
„Bemerkenswert ist, dass trotz einer rekordhohen Verbraucherpreisinflation die privaten Konsumausgaben der maßgebliche Wachstumstreiber waren. Dabei half auch der durch die Pandemie bedingte Geldanlagestau, der zum Teil zurück in Deutschlands Wirtschaft floss. Dennoch sorgten die insgesamt große Unsicherheit, die hohe Teuerung und die vermehrten Anstrengungen zur Einsparung von Energie für eine Abschwächung der Konjunkturdynamik im Jahresverlauf. Auch mit Blick auf das Wachstum in Höhe von 2,6 Prozent im Vorjahr wird deutlich, dass 2022 ein ausgesprochen herausforderndes Jahr war.“
ANDREAS SCHEUERLE, DEKABANK:
„Dank eines historischen Anstiegs der verfügbaren Einkommen war der private Konsum trotz der immensen Inflation der entscheidende Impulsgeber für die Konjunktur. Neben dem Nachholbedarf nach den Corona-Jahren waren insbesondere ein höheres Lohnwachstum und die staatlichen Unterstützungsmaßnahmen.“
MARTIN WANSLEBEN, DIHK-HAUPTGESCHÄFTSFÜHRER:
„Die Konjunktur 2022 ist etwas besser gelaufen als die Unternehmen im Herbst erwartet hatten. Dennoch bleibt die aktuelle Lage angespannt: Hohe Energiepreise, Rekordinflation und weltweit belastete konjunkturelle Aussichten bereiten vielen Unternehmen Sorgen.“
ALEXANDER KRÜGER, CHEFVOLKSWIRT HAUCK AUFHÄUSER LAMPE PRIVATBANK:
„Das BIP hat im Schlussquartal 2022 wohl nahezu stagniert, sofern Revisionen der Vorquartale ausgeblieben sind. Die Wirtschaft hat sich ganz klar besser gehalten, als es Stimmungsindikatoren signalisiert hatten. Kommt das dicke Ende noch? Stand jetzt ist von Rezession jedenfalls wenig zu spüren. Selbst wenn eine Rezession ausbliebe, bestünden nur vage Konjunkturhoffnungen. Wachsende Strukturschwächen lassen erwarten, dass pandemie- und kriegsbedingte Wohlstandsverluste noch jahrelang bestehen bleiben. Der deutsche Sonderweg in der Energiepolitik wird zudem weitere Wettbewerbsnachteile für viele heimische Unternehmen mit sich bringen. Es sieht so aus, als werde die deutsche Wirtschaft der Musik in anderen Ländern für längere Zeit hinterherlaufen.“
FRITZI KÖHLER-GEIB, CHEFVOLKSWIRTIN KFW:
„Rund 2 Prozent Wachstum trotz einer ernsthaften Energiekrise und rekordhoher Inflation – das ist ein respektables Ergebnis, das die Stabilisierungspolitik der Bundesregierung und die Anpassungsfähigkeit vieler Unternehmen ermöglicht haben. Unterm Strich waren die gesamtwirtschaftlichen Verluste aber dennoch beträchtlich: Denn vor dem russischen Überfall auf die Ukraine wurde noch ein in etwa doppelt so hohes Wachstum erwartet, was einen Unterschied von etwa 70 Milliarden Euro ausmacht. Vor allem aber überzeichnet die Entwicklung des preisbereinigten Bruttoinlandsprodukts die reale Einkommensentwicklung der Bevölkerung derzeit erheblich. Da die aktuelle Inflation die besonders stark gestiegenen Importpreise widerspiegelt, fällt die Verbraucherpreisinflation wesentlich stärker aus als die Preissteigerung bei den für das BIP relevanten Gütern und Dienstleistungen.“
THOMAS GITZEL, CHEFVOLKSWIRT VP BANK:
„Die Frage ist jetzt natürlich, wie es weitergeht. Ökonomen sind sich einig, dass der deutschen Volkswirtschaft schwierige Zeiten bevorstehen. Die Energiepreise werden trotz Preisbremsen auf relativ hohem Niveau bleiben, was eine schwere Bürde ist. Und auch die deutlich gestiegenen Lebenshaltungskosten sind eine schwere Last für den privaten Konsum. Doch aller Unkenrufe zum Trotz schlug sich die deutsche Wirtschaft bis zuletzt besser als gedacht. Die wieder besser funktionierenden Lieferketten schieben derzeit die Produktion an, was wiederum den Arbeitsmarkt stützt. Die deutsche Wirtschaft könnte sich deshalb weiterhin besser entwickeln als befürchtet. Möglicherweise verschiebt sich die Rezession auf der Zeitachse nach hinten. Dass die Rezession hingegen ganz ausbleibt, erscheint uns als unwahrscheinlich.“
JÖRG ZEUNER, CHEFVOLKSWIRT UNION INVESTMENT:
„Der Krieg in der Ukraine und seine Folgen haben die deutsche Wirtschaft im letzten Jahr kräftig ausgebremst. Das Jahr 2022 startete mit starkem Wachstum, doch mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine am 24. Februar wurden alle Prognosen Makulatur. Immerhin ist das Bruttoinlandsprodukt für das Gesamtjahr nun mit beachtlichen 1,9 Prozent erstaunlich robust gewachsen.“
JENS-OLIVER NIKLASCH, LBBW:
„Die Zahl bestätigt den Trend der letzten Wochen. Obgleich die Stimmung nach der russischen Aggression in der Ukraine und den hohen Energiepreisen phasenweise im Keller war, ist der konjunkturelle Absturz ausgeblieben. Dazu dürften die massiven Hilfen des Staates beigetragen haben, aber auch die Sondersituation nach dem Corona-Reopening mit den Nachholeffekten für den privaten Konsum. Alles in allem lief es 2022 konjunkturell erheblich besser als befürchtet. Damit ist zugleich die Ausgangssituation für 2023 rein rechnerisch natürlich deutlich besser geworden, weil wir mit einem kleinen statistischen Überhang von rund 0,2 Prozentpunkten starten. Dennoch liegt ein anspruchsvolles Jahr vor uns. Der Krieg dauert an, die Inflation ist weiterhin hoch, und zuletzt hat der Auftragseingang den Rückwärtsgang eingelegt. Da kommt einiges auf uns zu.“
JÖRG KRÄMER, CHEFVOLKSWIRT COMMERZBANK:
„Die Stagnation des Bruttoinlandsprodukts im vierten Quartal zeigt, dass die hohe Inflation nicht spurlos an der deutschen Wirtschaft vorbeigegangen ist. Schließlich haben der Einzelhandel und das Gastgewerbeim vierten Quartal preisbereinigt weniger umgesetzt. Für dieses Jahr bleibt eine milde Rezession wahrscheinlich. Schließlich mussten die Zentralbanken überall in der westlichen Welt wegen der hohen Inflation ihre Zinsen massiv anheben. Das dämpft bereits die zinssensitive Bauwirtschaft. Ich erwarte weiter, dass das deutsche Bruttoinlandsprodukt in diesem Jahr um 0,5 Prozent sinkt.“
SEBASTIAN DULLIEN, WISSENSCHAFTLICHER DIREKTOR IMK:
„Die deutsche Wirtschaft ist im vergangenen Jahr robust gewachsen. Auf den ersten Blick könnte man fast glauben, die russische Ukraine-Invasion und der Energiepreisschock seien spurlos an der deutschen Wirtschaft vorbeigegangen. Das wäre aber eine Fehlinterpretation der Zahlen: Ein beträchtlicher Teil des Wachstums kam aus dem ersten Quartal 2022, also noch vor der russischen Ukraine-Invasion. Einen weiteren großen Einfluss hat der sogenannte statistische Überhang, das Phänomen, dass das im Jahresvergleich gemessene Wachstum größer ausfällt, wenn die Wirtschaft im Vorjahresverlauf ein hohes Wachstum hatte, weil dann die Ausgangsbasis schon im Januar gut ist. Das ist diesmal hier der Fall.“
Ökonomen zum deutschen BIP-Zuwachs im Jahr 2022 von 1,9 Prozent
Quelle: Reuters
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