Lwiw/Kiew, 30. Mrz (Reuters) – Entgegen eines angekündigten Rückzugs aus dem Großraum Kiew und der nordukrainischen Großstadt Tschernihiw haben russische Verbände beide Ziele am Mittwoch erneut unter Beschuss genommen. Aus den nördlichen Vororten der Hauptstadt waren am Morgen intensive Bombenangriffe zu hören. Auch Tschernihiw mit seinen ursprünglich rund 285.000 Einwohnern wurde nach Angaben des Bürgermeisters in den vergangenen 24 Stunden wieder angegriffen. Dort sind mehr als 100.000 Menschen eingekesselt, Nahrungsmittel und Medikamente reichen Behördenangaben zufolge nur noch eine Woche.
„Das ist eine weitere Bestätigung dafür, dass Russland immer lügt“, sagte Tschernihiws Bürgermeister Wladyslaw Astroschenko dem US-Sender CNN. „Sie haben tatsächlich die Intensität ihrer Angriffe erhöht.“ Am Mittwoch habe sich im Zentrum der Stadt „ein kolossaler Granatenangriff“ ereignet, bei dem 25 Zivilisten verletzt worden seien. Reuters konnte die Lage in Tschernihiw unabhängig nicht überprüfen. Die russische Delegation hatte nach der letzten Verhandlungsrunde mit ukrainischen Vertretern am Dienstag in Istanbul angekündigt, die Truppen aus dem Großraum Kiew und um Tschernihiw zurückzuziehen, um ein gegenseitiges Vertrauen zu schaffen.
Zweifel an der russischen Ankündigung äußerte auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj. „Wir Ukrainer sind keine naiven Menschen“, sagte er. Man habe in den 34 Tagen der russischen Invasion und den acht Jahren Krieg in der Ostukraine gelernt, dass man nur darauf vertrauen könne, was tatsächlich passiere. Selenskyjs Berater Olexij Arestowytsch sagte, die Ankündigung Russlands deute darauf hin, dass die Verbände immer mehr im Osten der Ukraine massiert würden, um dort ukrainische Truppen einzukesseln. In der ostukrainischen Region Donezk gibt es dem dortigen Gouverneur zufolge bereits weiträumige Angriffe. Auch der Gouverneur der Region Luhansk berichtete von schwerem russischen Artilleriebeschuss von Wohngebieten in Lysytschansk.
„AUF GROSSOFFENSIVE EINSTELLEN“
Die Regierungen der USA und Großbritanniens sehen als Grund für den angekündigten Rückzug vor allem schwere Verluste der russischen Streitkräfte und den Versuch einer Neugruppierung der Invasionsarmee. „Wir alle sollten uns auf eine Großoffensive gegen andere Gebiete der Ukraine einstellen“, sagte der Sprecher des US-Verteidigungsministeriums, John Kirby. Das britische Verteidigungsminsterium hat Erkenntnisse, nach denen russische Einheiten nach Belarus und Russland zurückkommandiert wurden, um sich neu zu organisieren und ausstatten zu lassen. Zudem reagiere Russland nach den Verlusten am Boden nun mit heftigem Artillerie- und Raketenbeschuss auf ukrainische Städte. „Ich wäre sehr vorsichtig damit, das, was aus Putins Kriegsmaschinerie kommt, für bare Münze zu nehmen“, sagte der britische Vize-Premier Dominic Raab Times Radio.
Bei den Friedensgesprächen zwischen Russland und der Ukraine in Istanbul hatte es am Dienstag Fortschritte gegeben. So bot die Ukraine ihre Neutralität und den Verzicht auf einen Nato-Beitritt an, wenn es Sicherheitsgarantien gebe. Zudem war von einer 15-jährigen Übergangsregel für die von Russland 2014 annektierte ukrainische Halbinsel Krim die Rede. Kreml-Sprecher Dmitri Peskow begrüßte die Vorschläge grundsätzlich, betonte aber, es gebe noch viel zu tun.
Für einen Durchbruch gebe es noch keine Anzeichen. Aus der ukrainischen Regierung kamen dagegen vorsichtig zuversichtliche Signale. „Ich habe einen optimistischen Eindruck“, sagte Unterhändler Mychailo Podoljak. Bevor es eine Volksabstimmung über eine Friedensvereinbarung mit Russland geben könne, müsse sich das russische Militär aber auf die Positionen vom 23. Februar zurückziehen.
Deutschland ist grundsätzlich bereit, nach einem Friedensvertrag für die Ukraine als Sicherheitsgarant zu fungieren. Bundeskanzler Olaf Scholz habe diese „generelle Bereitschaft“ Deutschlands dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj auf dessen Nachfrage hin signalisiert, sagte ein Regierungssprecher in Berlin. Es gehe um die Frage, wie man nach einem Ende des Krieges das Sicherheitsbedürfnis der Ukraine befriedigen und das Land sicher sein könne, nicht wieder von Russland überfallen zu werden. Dafür sei es derzeit allerdings noch „einen Ticken zu früh“.
RUSSLAND – GAS MUSS NICHT SOFORT IN RUBEL BEZAHLT WERDEN
Die vom Westen verlangte Zahlung von Gaslieferungen in Rubel wird die Regierung in Moskau nicht unmittelbar umsetzen. Die Umstellung solle schrittweise erfolgen, teilte das Präsidialamt mit. Die G7-Staaten lehnen es ab, Öl und Gas in Rubel zu bezahlen, weil die Verträge auf Euro und Dollar laufen.
Am Donnerstag wollen die russische Regierung, Zentralbank und der Gasriese Gazprom Vorschläge präsentieren, wie die Zahlung auf Rubel umgestellt werden soll. Abnehmerländer mussten daher damit rechnen, dass Russland ab Donnerstag Gas und Öl nur noch gegen Rubel-Zahlungen liefern wird. Wegen eines möglichen Ausfalls russischer Gas-Lieferungen rief Wirtschaftsminister Robert Habeck am Mittwoch die Frühwarnstufe des Notfallsplans Gas aus.
Wieder Angriffe bei Kiew und Tschernihiw – Zweifel an Zusagen Moskaus
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Wichtige Entwicklungen zur Ukraine.