Berlin, 15. Jun (Reuters) – Die EZB will bei der Wiederanlage fällig werdender Gelder aus auslaufenden Anleihekaufprogrammen den höher verschuldeten Euro-Ländern besonders unter die Arme greifen. Bei den anstehenden Reinvestitionen aus dem billionenschweren Krisen-Anleihenkaufprogramm PEPP werde man entsprechend Flexibilität walten lassen, kündigte die Europäische Zentralbank (EZB) am Mittwoch nach einer Sondersitzung des EZB-Rats an. Ökonomen sagten dazu in ersten Reaktionen:
JÖRG KRÄMER, COMMERZBANK-CHEFVOLKSWIRT:
„Die EZB hat heute bekräftigt, dass sie die Wiederanlage fällig werdender Anleihe nutzen will, um die Anleihen hochverschuldeter Länder wie Italien zu stützen. Aber offensichtlich ist sich die EZB nicht sicher, ob das reicht. Denn sie hat ihre Fachleute mit der Ausarbeitung eines neuen Hilfsprogramms beauftragt. Ein solches Programm dürfte anders als das OMT-Programm auf Reformauflagen der Staatengemeinschaft verzichten, aber wohl Nettoanleihekäufe vorsehen. Dadurch gelangte aber neues Geld in Umlauf, was den Kampf gegen die sehr hohe Inflation behindern würde. Die Lage für italienische Staatsanleihen bleibt schwierig. Es rächt sich nun, dass sich das Land seit Jahren den notwendigen tiefgreifenden Reformen verschließt.“
ALEXANDER KRÜGER, HAUCK AUFHÄUSER LAMPE PRIVATBANK:
„Die EZB zeigt, dass sie bei der Fragmentierung keinen Spaß versteht. Sie berät nun, welche Gegenmaßnahmen ins Auge zu fassen sind. Die EZB wird auch erklären müssen, wie sich Anti-Fragmentierung und Leitzinserhöhungen miteinander vertragen. Die Phase der fiskalischen Dominanz wird anhalten.“
ELMAR VÖLKER, LBBW:
„Die Ankündigung der heutigen Sondersitzung hat die Finanzmärkte erneut kräftig in Bewegung versetzt in Antizipation eines möglichen neuen gezielten Anleihekaufprogramms, welches die Ausweitung der Risikoprämien vor allem bei italienischen Staatsanleihen bremst. Tatsächlich sind wir diesbezüglich jetzt nicht allzu viel schlauer als zuvor. Die EZB wird konkreter bezüglich einer Umschichtung von Reinvestitionen zugunsten der Peripheriestaaten. Die Pläne für ein neues Instrument werden jetzt als dringlicher betrachtet, weil einigen Notenbankern offenbar der jüngste starke Anstieg der Risikoprämien sauer aufstößt. Die hiermit seitens der EZB hastig demonstrierte Bereitschaft, ungewollte Nebenwirkungen der avisierten Kehrtwende in der Geldpolitik auf dem Staatsanleihemarkt zu begrenzen, unterstreicht das Dilemma, welchem die Euro-Währungshüter bei der angepeilten geldpolitischen Normalisierung gegenüberstehen. Ein Zielkonflikt scheint geradezu unausweichlich. Hiermit verbindet sich durchaus ein Risiko, dass die EZB weiterhin zu zögerlich bei der Bekämpfung der übermäßig hohen Inflation vorgeht, weil sie zugleich eine fortschreitende Fragmentierung des Kapitalmarktes fürchtet.“
RALF UMLAUF, HELABA:
„Die EZB ist aufgrund der bis zuletzt starken Verluste an den Rentenmärkten und der deutlich gestiegenen Risikoaufschläge sowie der damit einhergehenden, drohenden Fragmentierung des Euro-Kapitalmarktes unter Druck geraten, den avisierten Zinserhöhungszyklus zu flankieren. Dies soll die einheitliche Transmission der geldpolitischen Entscheidungen der EZB sicherstellen. Die über 1,6 Billionen Euro, die im Rahmen des PEPP in öffentliche Anleihen investiert wurden und deren Gesamtbestand gehalten werden soll, stellen ein erhebliches Potenzial zur Beeinflussung des europäischen Marktes dar, ohne der geldpolitischen Ausrichtung und den EZB-Zinsentscheidungen entgegenzuwirken. Allerdings hatten Marktteilnehmer seit heute Morgen auf ein konkretes Agieren der EZB gesetzt, das über die PEPP-Wiederanlagemodalitäten hinausgeht.“
Volkswirte zu Anleihen-Entscheidung der EZB
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