München, 18. Jan (Reuters) – Ein lapidarer Satz im Koalitionsvertrag der Ampel-Koalition weckte Hoffnungen bei zahllosen Vorständen und Investor-Relations-Verantwortlichen in deutschen Konzernen: „Wir ermöglichen dauerhaft Online-Hauptversammlungen und wahren dabei die Aktionärsrechte uneingeschränkt.“ Seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie 2020 dürfen die Unternehmen erleben, wie reibungslos ein Aktionärstreffen ablaufen kann, wenn es in aseptischer Studio-Atmosphäre statt in angemieteten Messe- und Sporthallen stattfindet und die Anteilseigner über das Internet zuschauen. Auch 2022 planen die meisten Dax-Unternehmen eine Online-HV. Doch in einer Umfrage der Nachrichtenagentur Reuters wird bei den Großkonzernen unerwartete Zurückhaltung zu dem neuen Format deutlich.
Nicht wenige entdecken sogar die Zuneigung zu einer Präsenz-Hauptversammlung neu. „Die Durchführung einer rein virtuellen HV in Post-Corona-Zeiten sehen wir derzeit kritisch“, erklärt die Deutsche Post. Siemens-Energy-Aufsichtsratschef Joe Kaeser vermisst den persönlichen Austausch mit den Aktionären. „Für 2023 sollte dann mit entsprechend hoher Impfquote eine Präsenzveranstaltung hoffentlich wieder möglich sein“, lässt er ausrichten. Ingo Speich, Leiter Nachhaltigkeit und Corporate Governance beim Wertpapierhaus Deka, wundert das nicht: „Die Euphorie über die Aussicht auf eine virtuelle Hauptversammlung im Covid-Format ist bei den Unternehmen gewichen. Sie sind von der Realität eingeholt worden.“ Denn der Teufel steckt im Detail. Die „neue“ Online-Hauptversammlung soll alle Aktionärsrechte wahren, wie die Bundesregierung betont.
Und das heißt nach den Vorstellungen privater Anleger, von Fondsanbietern und anderen Großinvestoren: Wortmeldungen live und nicht nur über Video-Aufzeichnung, Abstimmung direkt auf der Hauptversammlung und nicht per Briefwahl – und die Möglichkeit einer Anfechtung, die nach den 2020 hastig eingeführten Corona-Ausnahmeregeln ausgeschlossen ist. „Durch das Corona-Format hat auch die Qualität der Hauptversammlung gelitten“, sagt Speich. Oft sei nicht einmal der ganze Vorstand und Aufsichtsrat da. Die HV müsse „dringend wieder aktionärsfreundlicher werden“ – auch online, fordert Union-Investment-Vorstand Jens Wilhelm.
„MAN MUSS GANZ NEU DENKEN“
„Regulatorisch ist das eine große Herausforderung“, räumt Marc Tüngler ein, Hauptgeschäftsführer der Aktionärsvereinigung DSW. Es reiche nicht, die gewohnte Veranstaltung ins Internet zu verlegen. „Man muss ganz neu denken. Und man kann die heutige Hauptversammlung durchaus entrümpeln.“ Doch die Zeit drängt: Die Corona-Regelung läuft Ende August aus, und für die HV-Saison 2023 brauchen Unternehmen wie Siemens oder Thyssenkrupp, die für Januar oder Februar zu HV einladen, bis zum Herbst Klarheit. Das Bundesjustizministerium werde „zeitnah“ einen Gesetzentwurf vorlegen, sagt eine Sprecherin. Experten erwarten ihn spätestens im Februar.
Das Deutsche Aktieninstitut (DAI), das die Interessen der börsennotierten Unternehmen vertritt, wirbt für die virtuelle Hauptversammlung: „Sie ist für den Aktionär die bessere und bequemere Möglichkeit der Teilhabe als die Präsenz-HV“, sagt Franz-Josef Leven aus der DAI-Geschäftsführung. Über Video hatten sich zuletzt mehr internationale Fondsmanager eingeklinkt, während in den Hallen Rentner mit viel Zeit das Geschehen dominierten. Lohnend wäre die Online-HV für Konzerne, die tagelang die Frankfurter Festhalle oder die Olympiahalle in München mieten und Tausende Aktionäre verköstigen müssen. Für Mittelständler, die hundert Anteilseigner in einem Hotel oder der eigenen Werkshalle empfangen, ist das weniger aufwendig als eine Video-Veranstaltung.
ANGST VOR ANFECHTUNG
Doch auch das DAI fürchtet Anfechtungsrisiken. Was sagen Gerichte, wenn die Übertragung ausfällt oder der Aktionär sagt, er habe online nicht abstimmen können? Wer hat die Beweislast? In der Vergangenheit hatten Aktionäre gegen millionenschwere Beschlüsse geklagt, weil die Toilettenspülung zu laut war, so dass sie einen Teil der Vorstandsrede nicht hören konnten. „Höchstmögliche Rechtssicherheit“ fordert auch der Volkswagen-Großaktionär Porsche SE.
„Vielleicht könnte ein Quorum für das Frage-, Rede- oder auch das Antragsrecht helfen“, schlägt Deka-Experte Speich vor. Dann müsste ein Aktionär eine bestimmte Anzahl von Aktien oder einen Anteil am Grundkapital – etwa 10.000 Euro – halten, um gegen Beschlüsse vorgehen zu können. Das würde Berufsklägern die Hände binden, die mit einer Aktie den Aufstand proben. Auch DSW-Geschäftsführer Tüngler kann sich ein solches Quorum vorstellen. Doch das wären dicke Bretter, die der Gesetzgeber bohren müsste. „Ich habe Zweifel, ob das Aktiengesetz rechtzeitig vor der HV-Saison 2023 geändert werden kann“, ist Speich skeptisch.
Drei Dax-Konzernen kann das egal sein: Airbus und Qiagen haben ihren Firmensitz in den Niederlanden, wo Hauptversammlungen traditionell weit unspektakulärer ablaufen, Linde in Irland. Das Aktionärstreffens des Gasekonzerns in einem Londoner Hotel dauerte 2021 ganze 24 Minuten.
Virtuelle Hauptversammlung kommt – hat aber Tücken
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