Berlin, 23. Aug (Reuters) – Die bislang vereinbarten Tariferhöhungen gleichen einer Studie zufolge den starken Inflationsanstieg in diesem Jahr bei weitem nicht aus. Nach den bislang vorliegenden Abschlüssen dürften die Tariflöhne 2022 durchschnittlich um 2,9 Prozent wachsen, wie aus der Untersuchung des Tarifarchivs des gewerkschaftsnahen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) hervorgeht. Nach Abzug der erwarteten Inflationsrate sinken sie demnach real jedoch um 3,6 Prozent.
„Nachdem die Tariflöhne in den 2010er Jahren real relativ deutlich zugenommen haben, drohen 2022 für viele Beschäftigte im zweiten Jahr in Folge Reallohnverluste“, sagte der Leiter des WSI-Tarifarchivs, Thorsten Schulten. Die Studie berücksichtigt alle im ersten Halbjahr abgeschlossenen und die in den Vorjahren für 2022 bereits vereinbarten Tariferhöhungen.
„Angesichts der vollkommen ungewissen Entwicklung des Ukraine-Krieges und seiner wirtschaftlichen Folgen ist die Tarifpolitik allein in vielen Branchen überfordert, die Kaufkraftverluste der Beschäftigten auszugleichen“, sagte Schulten. „Hier sind zusätzliche Entlastungsmaßnahmen durch den Staat notwendig.“ Zugleich kritisiert Schulten die Maßhalteappelle an die Gewerkschaften. „Ein nüchterner Blick auf die Tarifdaten zeigt: Die vielbeschworene Lohn-Preis-Spirale ist eine Fata Morgana“, sagte der Experte. „Es besteht im Gegenteil die Gefahr, dass Reallohnverluste die private Nachfrage weiter schwächen und damit die wirtschaftliche Entwicklung zusätzlich beschädigen.“
GEGEN DEN TREND
Allerdings gibt es den Angaben zufolge auch einige Tarifbranchen, in denen gegen den Trend nicht nur die Preisentwicklung ausgeglichen wird, sondern darüber hinaus auch Reallohnzuwächse zu beobachten sind. Hierzu gehörten vor allem einige klassische Niedriglohnbranchen wie das Hotel- und Gaststättengewerbe, das Gebäudereinigungshandwerk oder die Leiharbeit. Hier wurden in Tarifabschlüssen der vergangenen Monate vor allem für die unteren Lohngruppen oft zweistellige Steigerungen vereinbart.
„Mit außergewöhnlich hohen Entgeltzuwächsen reagieren diese Tarifbranchen auf den zunehmenden Arbeits- und Fachkräftemangel“, erklärte Schulte. „Zugleich nutzen sie die von der Bundesregierung beschlossene Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns auf 12 Euro, um oberhalb dessen die tarifvertraglichen Entgeltstrukturen neu aufzubauen.“
Insgesamt werden den Angaben nach in diesem Jahr für knapp elf Millionen Beschäftigte Tariferhöhungen wirksam, die bereits 2021 oder noch früher festgelegt wurden. Hierzu gehören große Branchen wie der öffentliche Dienst oder der Einzelhandel. Im zweiten Halbjahr folgen eine Reihe weiterer Verhandlungen – etwa in der Metall- und Elektroindustrie sowie in der Chemiebranche, wo die Gespräche im Frühjahr bewusst ausgesetzt wurden.
Tarifbeschäftigten droht 2022 reales Lohnminus von 3,6 Prozent
Copyright: (c) Copyright Thomson Reuters 2022
Titelfoto: Symbolfoto
Die aktuelle Folge zum FUNDSCENE NFT, Web3 , Metaverse Talk