22. Jun (Reuters) – Vor dem Hintergrund explodierender Strom- und Gaspreise mehren sich in der Politik und Wirtschaft die Stimmen, die sich für eine Verlängerung der AKW-Laufzeiten aussprechen. Wasser auf die Mühlen kam am Mittwoch von der Internationalen Energieagentur (IEA). „Wenn es technisch möglich ist, sollte man sie weiter betreiben“, sagte IEA-Chef Fatih Birol der Wochenzeitung „Die Zeit“. Eigentlich sollte zum Jahresende das letzte Atomkraftwerk in Deutschland vom Netz gehen. Doch längere Laufzeiten werfen eine Reihe von Fragen auf:
WAS SAGT DIE POLITIK?
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) lehnt eine Debatte über längere AKW-Laufzeiten ab. Er verweist auf die Aussage von Experten, wonach die Brennstäbe in den drei verbliebenen Meilern nur noch bis Ende des Jahres reichten. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) hat eine Verlängerung prüfen lassen. Fazit: „Im Ergebnis einer Abwägung von Nutzen und Risiken ist eine Laufzeitverlängerung der drei noch bestehenden Atomkraftwerke auch angesichts der aktuellen Gaskrise nicht zu empfehlen.“ Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) hat sich hingegen für eine Debatte über eine Laufzeitenverlängerung der AKW ausgesprochen. Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) macht sich für eine Verlängerung stark „bis diese Krise gelöst ist“.
WELCHE AKW SIND NOCH AM NETZ?
Derzeit laufen noch drei Anlagen: Emsland in Niedersachsen, Neckarwestheim II in Baden-Württemberg sowie Isar II in Bayern. Sie decken mit insgesamt 4300 MW Leistung im Durchschnitt etwa 30 TWh pro Jahr ab, rund fünf Prozent der deutschen Stromproduktion.
WELCHEN BEITRAG ZUR GAS-REDUZIERUNG KÖNNTEN DIE AKW LEISTEN?
Nach der Ansicht des Bundeswirtschaftsministeriums nur einen sehr kleinen. „Wir haben ein Problem bei der Gas – und damit der Wärmeversorgung, nicht beim Strom“, heißt es in einem Papier zur Nutzung von Atomkraft in Deutschland. Erdgas wird in Deutschland zu 12,5 Prozent für die Stromerzeugung verbraucht. Gaskraftwerke sind sehr flexibel und werden vor allem dazu genutzt, bei Spitzenlasten schnell mehr Strom liefern zu können. Atomkraftwerke produzieren dagegen kontinuierlich Strom und könnten rein technisch nicht das ersetzen, was Gaskraftwerke leisten, wie das Wirtschaftsministerium erläutert.
KÖNNEN DIE AKW RECHTLICH WEITER BETRIEBEN WERDEN?
Dafür müsste das Atomgesetz geändert werden. In Paragraf 7 ist das Enddatum 31.12.2022 festgelegt. Zudem: Der Atomausstieg ist in Verträgen der Regierung mit den Betreibern geregelt, wo die Daten auch hinterlegt sind. Auch diese müssten aufgelöst und neu verhandelt werden. Die Atomlobby hat keine Bedenken. Eine Laufzeitverlängerung um ein paar Jahre wäre rechtlich zulässig, zitiert die Organisation KernD den Rechtsanwalt Christian Raetzke auf ihrer Website. „Ein Gesetz zur Laufzeitverlängerung – wenn denn die politische Willensbildung in diese Richtung ginge – ist möglich und könnte zügig verabschiedet werden.“
SIND DIE AKW SICHER?
Die drei Anlagen sind im europäischen Vergleich zwar relativ jung, dennoch würden bei einer Laufzeitverlängerung eine Reihe von Problemen entstehen. Da die Betreiber von einem Aus Ende des Jahres ausgingen, sind Wartungsintervalle und Sicherheitsüberprüfungen darauf ausgelegt. „Es wurden sicher keine Nachrüstungen mehr gemacht und keine Wartungsarbeiten“, sagt der Atomexperte Wolfgang Renneberg der Nachrichtenagentur Reuters. Er war früher Leiter der Reaktorsicherheits-Abteilung im Umweltministerium. „Es gibt sicher einen Investitionsstau.“ Überprüfungen der Behörden dauerten häufig Monate.
E.ON-Chef Leonhard Birnbaum schrieb diese Woche in einem Reuters vorliegenden Brief an die Mitarbeiter der Atomtochter PreussenElektra, dass die Betreiber gegenüber der Bundesregierung erklärt haben, dass ein Weiterbetrieb über Ende 2022 hinaus mit gewissen Anstrengungen technisch möglich wäre. Die Bundesregierung habe den möglichen Beitrag der AKWs geprüft und sei zu dem Schluss gekommen, dass Kernenergie nicht Teil der Lösung sein solle.
WIE IST MIT DEN BRENNSTÄBEN?
Die Brennelemente, sozusagen der Treibstoff der Reaktoren, wurden aus wirtschaftlichen Gründen auf das Enddatum ausgelegt. Es müssten also wohl zahlreiche ausgetauscht und damit vermutlich auch der Reaktorkern erneuert werden. Das wird von Behörden streng überwacht und kann schnell über ein Jahr dauern. Zumal Brennelemente speziell für den jeweiligen Reaktor angefertigt werden müssen und nicht einfach verfügbar sind.
WIE IST DIE PERSONALLAGE BEI DEN BETREIBERN
Die Chefs von RWE, E.ON und EnBW haben sich in den vergangenen Monaten immer wieder gegen eine Verlängerung der Laufzeiten ausgesprochen. Sie sind längst auf Ökokurs und froh, ein Thema los zu sein, das über Jahrzehnte wie kaum ein anderes die Gesellschaft gespalten hat. Sie haben sich auf den Ausstieg eingestellt. Eine Sprecherin der E.ON-Tochter PreussenElektra sagt: „Dies hat zur Folge, dass wir nicht mehr über frische Brennelemente verfügen, die für einen Betrieb erforderlich wären. Und auch das erforderliche Personal, das wir zum Betrieb unserer Anlagen benötigen würden, steht nach der Abschaltung nicht mehr in ausreichendem Maße für einen Leistungsbetrieb bereit.“
Der Atomausstieg war bis Ende 2022 nach der Katastrophe von Fukushima vereinbart worden. Dabei wurden unter anderem Reststrommengen vereinbart, die noch produziert werden dürfen. Eine Aufkündigung müsste hier neue Regelungen schaffen. Zugleich würde es wohl auch die Anti-Atom-Bewegung wiederbeleben.
Zudem: In einer sogenannten Atomkommission wurden auch finanzielle Fragen zur Zwischen- und Endlagerung geregelt. Die Betreiber wurden aus ihrer Verantwortung zu großen Teilen gegen eine Zahlung von 24 Milliarden Euro entlassen. Auch dies basiert auf dem Aus bis Ende 2022 und müsste teilweise neu verhandelt werden. Mögliche Kosten müsste wohl der Bund übernehmen. Gleiches gilt für die außergerichtliche Einigung über Entschädigungsfragen mit RWE, Vattenfall, EnBW und E.ON. Auch hier müsste ein Paket wieder aufgeschnürt werden.
Sind längere Laufzeiten für Atomkraftwerke möglich?
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