Kiew/London, 02. Jun (Reuters) – Unmittelbar vor dem 100. Kriegstag in der Ukraine kontrolliert Russland nach Angaben der Regierung in Kiew ein Fünftel des Landes. Die Frontlinien erstreckten sich insgesamt über mehr als 1000 Kilometer, sagte Präsident Wolodymyr Selenskyj am Donnerstag per Videoschalte vor dem Luxemburger Parlament. Nach seinen Angaben sterben im Osten der Ukraine inzwischen täglich 100 Menschen. Die Kämpfe dort konzentrierten sich auf den Ort Sjewjerodonezk und der Zwillingsstadt Lyssytschansk. Sollte Russland beide Städte einnehmen, hätte es die Region Luhansk, die zusammen mit der Region Donezk den Donbass bildet, vollständig unter Kontrolle. Präsident Wladimir Putin hätte damit ein wichtiges Ziel erreicht.
Die USA und die EU erhöhten ihren Druck auf Russland wie auch ihre Unterstützung für die Ukraine. Unter anderen kündigte US-Präsident Joe Biden die Lieferung fortschrittlicher Waffen an: Die Ukraine hält das Artillerie-Raketensystem M142 High Mobility Artillery Rocket (HIMARS). Am Vortag hatte die Nachrichtenagentur Reuters aus US-Kreisen erfahren, dass Biden den Verkauf von vier fortgeschrittenen MQ-1C „Gray Eagle“ Drohnen an die Ukraine plant. Am Donnerstag auf den Bericht angesprochen erklärte der Sprecher des russischen Präsidialamts Dmitri Peskow, der Strom westlicher Waffen in die Ukraine werde „die Parameter des Sondereinsatzes“ nicht verändern. „Die Ziele werden erreicht, aber dies wird der Ukraine mehr Leid bringen.“ Die US-Regierung gab weitere Strafmaßnahmen bekannt.
INSIDER: UNGARN ERZWINGT ABSCHWÄCHUNG VON EU-SANKTIONEN
In Europa einigten sich die Botschafter der EU-Staaten auf ein sechstes Sanktionspaket, wie Reuters von einem EU-Diplomaten erfuhr. Die Einigung sei möglich geworden, nachdem 26 der 27 EU-Staaten dem Wunsch Ungarns nachgekommen seien und den Patriarchen der Russisch-Orthodoxen Kirche Kiryll und engen Verbündeten der russischen Regierung von der Sanktionsliste genommen hätten. Die Maßnahmen sollten am Freitagmorgen – dem 100. Tag des Krieges – in Kraft treten. Ihr Kern ist ein Teil-Embargo gegen russisches Öl. Der russische Vize-Ministerpräsident Alexander Nowak nannte den Schritt in einer ersten Reaktion politisch motiviert. Es könne nun zu einem bedeutenden Mangel von Öl und Ölprodukten in Europa kommen, sagte er im staatlichen Fernsehen.
HABECK: PUTIN „KANN DAS NICHT MEHR LANGE DURCHHALTEN“
Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck zeigte sich überzeugt, dass Russland wegen der Sanktionen wirtschaftlich bald am Ende sein werde. Zwar könne Putin die Armee vielleicht noch über heimische Produkte wie Öl oder Weizen versorgen, sagte er im Bundestag. Die Wirtschaft des Landes breche jedoch dramatisch ein. „Er kann das nicht mehr lange durchhalten.“ Putin könne sich von den Öl- oder Gas-Einnahmen faktisch nichts mehr kaufen. „Es fehlen Sicherheitsupdates für die Flugzeuge mit der Konsequenz, dass die Flugzeuge bald am Boden bleiben.“ Auch der Handel mit neutralen oder gar prorussischen Ländern gehe deutlich zurück. „Die Zeit arbeitet nicht für Russland, sie arbeitet gegen Russland.“
Experten wiesen darauf hin, dass Putin bislang keinerlei Interesse an Diplomatie erkennen lasse. „Er glaubt weiter, dass es eine gute militärische Lösung für dieses Problem gibt“, sagte Olga Oliker von der Crisis Group. Zudem könne Putin jederzeit einfach den Sieg verkünden, da seine erklärten Ziele der Entmilitarisierung und Entnazifizierung der Ukraine „nie klar definiert und immer etwas lächerlich waren“. Russland bezeichnet den Konflikt nicht als Krieg, sondern als militärischen Sondereinsatz. Dem Putin-Kenner Gerhard Mangott zufolge könnte der russische Präsident auch Hoffnung aus Anzeichen von Kriegsmüdigkeit in einigen westlichen Staaten schöpfen. „Putin rechnet damit, dass je länger sich dieser Krieg hinzieht, es immer mehr Konflikte und Reibungen innerhalb des westlichen Lagers geben wird.“
Russland kontrolliert ein Fünftel der Ukraine
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