Wie die Talente in Rente den Fachkräftemangel abmildern (könnten)
In Deutschland gehen 1.000.000 Menschen in den Ruhestand. Jedes Jahr! Die kommenden zehn Jahre. Das Erfahrungswissen, das mit diesen Menschen aus dem Arbeitsleben verschwindet, ist enorm und bleibt in weiten Teilen ungenutzt. Und das, wo in Zeiten des Fachkräftemangels Expertise händeringend gesucht und gebraucht wird.
Veraltete Altersbilder und die graue Seitenlinie
Warum ist das so? Der Hauptgrund liegt in den Köpfen vieler Entscheider, sie pflegen ein veraltetes Altersbild. Ab einer gewillkürten Altersgrenze, gerne ab 50 oder 65 Jahren, sind Menschen alt und damit nicht mehr belastbar, häufig krank und digital rückständig. Das ist einfach und auch diskriminierend. Im englischen Sprachraum spricht man von „the grey sideline“, der grauen Seitenlinie.
Diese imaginäre Seitenlinie hindert Menschen sehr real daran, Teil des Teams zu bleiben und ihren Beitrag zum Erfolg zu leisten. Die Position am Rande oder außerhalb des Spielfelds hat sehr greifbare Konsequenzen für die Person, die an den Rand gedrängt wird. Auch für das Unternehmen, die Firmenkultur, die Kollegen und Führungskräfte hat es Auswirkungen. Es geht unter anderem um Enttäuschungen und Frustration.
Menschen, die sinnbildlich am Spielfeldrand stehen, werden nicht mehr gefordert und gefördert. Oftmals werden sie mit ihrem Wissen und Problemlösungskompetenzen schon vor dem letzten Arbeitstag aus dem Unternehmen in den Ruhestand gedrängt.
Und da sind sie nun zu Tausenden im Ruhestand. Gut ausgebildete, fitte Damen und Herren mit sehr viel freier Zeit. Ein großer Teil von ihnen sucht eine neue Herausforderung, die sie im privaten Umfeld, bei einer Weiterbildung oder im Ehrenamt suchen und häufig auch finden.
re-hiring & late-recruiting
Um das Potential dieser „Talente in Rente“ zu nutzen, bieten sich für Unternehmen zwei Strategien an: re-hiring und late-recruiting.
Beim late-recruiting werden über etablierte Prozesse gezielt Menschen mit großer Berufserfahrung eingestellt. Dies bedingt oftmals Veränderungen bei der Rekrutierung, denn die Einstellung von Älteren wird in den meisten Unternehmen vermieden, bewusst oder unbewusst. Ältere werden mit krankheitsbedingten Fehlzeiten, überhöhten Gehaltsforderungen und veralteten Wissen assoziiert. Unterschätzt werden soziale Kompetenzen, Resilienz im Umgang mit Veränderung und das Problemlösungs- und Erfahrungswissen.
Gerade in altersgemischten Teams können sich diese Fähigkeiten mit denen der jüngeren Mitarbeitern hervorragend ergänzen. Damit diese Vielfalt an Expertise und Einstellung ein Erfolg wird, ist eine vorurteilsfreie, faire und fördernde Führung notwendig, die auch gesundheitserhaltende Arbeitsbedingungen, betriebliche Bildung und die Wertschätzung aller Mitarbeitenden berücksichtigt.
Eine neue und in Zeiten der Massenverrentung kaum genutzte Maßnahme ist das re-hiring, die gezielte Bindung der eignen Mitarbeiter im Ruhestand.
Um dieses Potential im eigenen Unternehmen zu nutzen, müssen Unternehmen klare Rahmenbedingungen und Prozesse für ein erfolgreiches re-hiring etablieren. An Anfang stehen die Identifikation und Beschreibung der im Unternehmen geeigneten Stellen. In diesem Kontext sind dann die Vergütung und die arbeitsrechtlichen Grundlagen zu fassen; hinzu kommt die Gestaltung der Organisation.
Sind diese Rahmenbedingungen festgeschrieben, kann ausscheidenden Mitarbeitern im Rahmen eines systematischen offboarding Prozesses ein entsprechendes Angebot unterbreitet werden. Alternativ können diese Stellen auch mit Ruheständlern besetzt werden, die nicht aus dem eigenen Unternehmen stammen.
re-hiring & corporate granfluencer
Auswertungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) zeigen, dass der Anteil von Personen, die im Ruhestand einer Erwerbstätigkeit nachgehen sich auf einem Höchststand befindet. 15% der 65- bis 69-jährigen und 13% der 70- bis 74-jährigen gehen einer bezahlten Arbeit nach. Aktuell sind das mehr als zwei Millionen Menschen.
Die wesentlichen Gründe, warum Menschen wieder einem Beruf nachgehen, sind laut IAB der Spaß an der Arbeit oder das Bedürfnis nach einer sinnvollen Aufgabe und sozialen Kontakten. Die Daten zeigen auch, dass die Rückkehrer auf den Arbeitsmarkt im Durchschnitt 14,5 Wochenstunden arbeiten, und dass die Wahrscheinlichkeit, im Ruhestand einer Erwerbsarbeit nachzugehen bei hohem Bildungsniveau am größten ist.
Re-hiring richtet sich an dieses wachsende Segment von qualifizierten Ruheständlern, die motiviert arbeiten und so offene Stellen kompetent besetzen können.
In dieser Rolle können sie auch eine weitere Aufgabe übernehmen: „Corporate granfluencer“ Rentner:innen, die mit Spaß hochmotiviert im Unternehmen tätig sind, sind hervorragende Markenbotschafter und gleichzeitig Vorbilder für Arbeitnehmer, die sich mit der Gestaltung ihres Ruhestandes befassen, Recruiter für weitere Talente in Rente.
Autor:
Frank Leyhausen ist Co-Founder von www.ageforce1.com dem ersten digitalem Ruhestandscoaching-Programm. Seit über 20 Jahren berät Unternehmen zu den Chancen und Herausforderung einer alternden Gesellschaft und ist als Keynote-Speaker international tätig.
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Titelgrafik: Bild von Gerd Altmann auf Pixabay