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Porträt: Selenskyj – Ein Präsident wider Erwarten

Kiew, 24. Feb – Er genießt eine Zustimmung wie noch kein ukrainischer Präsident vor ihm: Wolodymyr Selenskyj. Seit 2019 ist der 45-Jährige im Amt, seit einem Jahr befindet sich sein Land im Krieg mit Russland. Als am 24. Februar 2022 russische Truppen in die Ukraine einmarschierten, trauten wenige dem früheren Komiker einen derartigen Wandel zu. Die Euphorie nach seinem Wahlsieg war verflogen, die Umfragewerte schwanden dahin. Zu groß war der Ärger über die weit verbreitete Korruption, die wirtschaftliche Misere und schlechte Führung. Nach einem Jahr Krieg, fast 400 Telefonaten mit Staats- und Regierungschefs sowie anderen hochrangigen Entscheidungsträgern, über 150 Meetings, unzähligen diversen Ansprachen im In- und Ausland sowie täglichen Videobotschaften an das Volk, hat sich das Bild gewandelt. 

„Selenskyj hat viele überrascht. Sie haben seine Führungsqualitäten unterschätzt“, sagt Wolodymyr Fesenko, ein in Kiew ansässiger Analyst. Auch der russische Präsident Wladimir Putin habe falsch gelegen. Putin habe einen militärischen Sondereinsatz vorbereitet und keinen ausgewachsenen Krieg, weil er davon ausgegangen sei, dass sowohl Selenskyj als auch das ukrainische Militär zu schwach seien, um dem dauerhaft standzuhalten. „Das hat sich als Fehler erwiesen.“ Laut Anton Gruschezky, dem stellvertretendem Direktor des Internationalen Instituts für Soziologie in Kiew, vertrauen 70 bis 80 Prozent der Bevölkerung Selenskyj. „Eine solche Stabilität hat es in der Geschichte der Ukraine noch nicht gegeben“, sagt er. 

Anfangs hat man das Selenskyj nicht zugetraut. Geboren wurde er noch zu Sowjetzeiten 1978 und wuchs in einer russisch-sprachigen, jüdischen Familie in der ukrainische Stadt Krywyj Rih auf. Popularität erlangte der studierte Jurist in der TV-Serie „Diener des Volkes“. Dort spielte er einen Lehrer, der zufällig Präsident wird und mit der Korruption im Land aufräumen will. 2019 wird Fiktion Wirklichkeit als Selenskyj bei der Präsidentenwahl gegen Petro Poroschenko gewinnt. Doch bis zu Kriegsbeginn kam er mit seinen Versprechen nicht weit. Das hat sich inzwischen verändert. Vor kurzem enthob Selenskyj im Kampf gegen die Korruption zahlreiche Politiker ihrer Ämter, auch in den eigenen Reihen. 

„ICH BIN DA“ – „WIR WERDEN GEWINNEN“

Politischen Beobachtern zufolge stehen seine Gegner weitgehend auf dem Abstellgleis oder halten sich zumindest öffentlich zurück. In Kriegszeiten sei es nicht angemessen, ein Fazit über Selenskyjs Präsidentschaft zu ziehen, sagt sein Vorgänger Poroschenko. „Seit dem 24. Februar 2022 bin ich nicht mehr der Anführer der Opposition, weil wir beide – Selenskyj und Poroschenko – Soldaten sind“, sagt er der Nachrichtenagentur Reuters. Das Volk werde nach dem Sieg der Ukraine über sie beide befinden.

„Er ist dageblieben und nicht in Panik verfallen“, fasst Anton Fedorenko, der Kommandant einer Einheit im Osten der Ukraine zusammen. Er habe sofort angepackt und einiges in die Wege geleitet. „Er hat die Aufmerksamkeit auf die Ukraine gelenkt. Das ist wichtig.“ Weltweit sei man sich nun des Konflikts in der Ukraine bewusst. 

Selenskyj vermochte es, Milliarden Dollar an Hilfe für die Ukraine zu sichern, zahlreiche Länder liefern Waffen – zu den größten Unterstützern gehören die USA. Deutschland gab in der Zwischenzeit seinen Widerstand gegen die Lieferung von schweren Waffen auf und sagte Kampfpanzer zu. Den Kandidatenstatus für die Aufnahme in die EU erhielt die Ukraine schneller als allgemein üblich. Einige schwere Aufgaben stehen Selenskyj allerdings noch bevor. Bei seiner Forderung nach Kampfjets ist der Widerstand westlicher Verbündeter noch groß. Die von ihm gewünschte Aufnahme in die Nato ist noch in weiter Ferne.

Dennoch gilt Selenskyj als Symbol des Widerstands der Ukraine gegen Russland. Mit ihm werden Stabilität und Standhaftigkeit in Verbindung gebracht – vor allem zu Hause. „Ich bin da“, sagte er kurz nach der Invasion in einem selbst gedrehten Video. Es war der Beginn einer beispiellosen Medienkampagne. Allabendlich wendet sich Selenskyj per Videoansprache an das Volk und über die sozialen Netzwerke damit auch an die Welt. Er wird nicht müde zu erklären: „Wir werden gewinnen.“ Für die Kämpfer ist das enorm wichtig. Mit Tränen in den Augen verfolgten ukrainische Soldaten in einem Schützengraben seine Neujahrsansprache, wie Reuters-Reporter beobachten konnten. „Das ist das Jahr, in dem die Ukraine die Welt verändert hat und die Welt die Ukraine entdeckt hat. Uns wurde gesagt, wir sollten aufgeben. Wir haben uns für den Gegenangriff entschieden“, sagte Selenskyj.

Noch wirkt der seit Beginn des Krieges stets in Militärgrün gekleidete Präsident unermüdlich bei seinen zahlreichen Treffen mit ausländischen Politikern, die nach Kiew kommen – auch wenn er manchmal Ringe unter den Augen hat. Die Frage ist: Wie lange hält er durch?

Porträt: Selenskyj – Ein Präsident wider Erwarten

Quelle: Reuters

Symbolfoto: Bild von Wilfried Pohnke auf Pixabay

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