Frankfurt/Berlin, 09. Jun (Reuters) – Die Europäische Zentralbank (EZB) macht angesichts der rekordhohen Inflation den Weg frei für die erste Zinsanhebung seit elf Jahren. Als wichtige Voraussetzung dafür kündigte sie am Donnerstag das Aus für das milliardenschwere Anleihe-Ankaufprogramms APP an. Im Juli steht dann eine Zinserhöhung um 0,25 Prozentpunkte an und im September ein weiterer – womöglich höherer – Schritt. Es folgen Einschätzungen von Volkswirten:
CLEMENS FUEST, IFO INSTITUT:
„Es war nicht akzeptabel, dass die EZB bei einer Inflation von acht Prozent bis heute an Negativzinsen und Anleihenkäufen festgehalten hat. Die Preissteigerungen betreffen nicht nur Energie und Lebensmittel, sie gewinnen an Breite. Die Regierungen der Euro-Länder müssen nun aufpassen. Zusätzliche Staatsschulden sind angesichts der schon durch Corona stark erhöhten Schuldenstände sowie der aktuellen Angebotsverknappung und Zinssteigerungen gefährlich.“
STEFAN KOOTHS, KONJUNKTURCHEF KIELER IFW-INSTITUT:
„Dass die EZB von einer Zinsanhebung abgesehen hat und diese erst für die nächsten Monate ankündigt, erhöht die geldpolitischen Risiken unnötig. Die verkündeten Schritte sind ein überfälliger Anfang, aber eben auch nur das. Die EZB muss dringend weitere Schritte unternehmen, um die Geldpolitik zu normalisieren, denn ihre Glaubwürdigkeit steht auf dem Spiel. Ihr zentraler Auftrag ist die Geldwertstabilität, und der sollte sie sich jetzt ausschließlich widmen. Verfestigt sich der Eindruck, dass sie sich vor allem von den Nöten der Finanzpolitik in einigen Euro-Ländern treiben lässt, droht sich die Erwartung einer weiter steigenden Inflation zu verselbständigen. Erst wenn das eintritt, verfestigt sich die Geldentwertung.“
ELMAR VÖLKER, LBBW:
„Nach genau acht Jahren Negativzinspolitik wird der heutige Tag ambivalent in Erinnerung bleiben: Einerseits als Zäsur, denn seit heute ist klar, dass die Zeit negativer Leitzinsen aller Voraussicht nach im September zu Ende geht. Andererseits hat die EZB eine Gelegenheit verpasst, um mittels eines sofortigen Endes von Anleihekäufen und Negativzinspolitik ein klares Zeichen der Entschlossenheit zu zeigen. Der Hintergrund scheint klar: Die EZB will nicht Auslöser sein für neuerliche massive Finanzmarktturbulenzen. Die Zurückhaltung könnte sich jedoch später rächen, falls weiter ausufernder Teuerungsdruck in der Folge umso größere Zinssprünge erzwingt.“
THOMAS ALTMANN, QC PARTNERS:
„Die Notenbank hebt ihre Inflationsprognosen deutlich an. Und das nicht nur für das laufende Jahr. Auch für 2023 erwartet die EZB mit 3,5 Prozent jetzt ein deutliches Überschießen der Teuerung über das Zwei-Prozent-Ziel. Erst 2024 soll sich die Inflation wieder im Bereich des EZB-Ziels einpendeln. Diese massiven Anpassungen der Inflationserwartung machen sowohl größere Zinsschritte als auch einen länger andauernden Erhöhungszyklus deutlich wahrscheinlicher. Die Anpassung der Inflationserwartung hat die Börsen auf dem falschen Fuß erwischt. Mit einer so deutlichen Anpassung nach oben haben die wenigsten gerechnet. Am Anleihenmarkt herrscht Ausverkaufsstimmung.“
NAEEM ASLAM, AVATRADE:
„Viel Enttäuschung durch die EZB-Entscheidung, da die Bank den Leitzins unverändert ließ. Dies drückt den Euro zum Dollar. Entscheidend ist die Pressekonferenz. Investoren werden auf weitere Details zu den Plänen der EZB im Kampf gegen die steigende Inflation achten.“
OTMAR LANG, TARGOBANK:
„Es zeichnet sich ein klassischer Hase-Igel Wettlauf gegen die Inflation ab, den die EZB bereits am Start zu verlieren scheint. So sehr man ihr zum vollzogenen geldpolitischen Schwenk gratulieren möchte, so nahe liegt das Bedauern, dass sie damit eventuell zu spät dran ist.“
JÖRG KRÄMER, COMMERZBANK-CHEFÖKONOM:
„Die EZB hat heute erst für Juli eine Zinserhöhung um nur 0,25 Prozentpunkte angekündigt. Durch dieses Zögern riskiert sie, dass die Inflationserwartungen der Bürger weiter steigen und sich die hohe Inflation dauerhaft festsetzt. Um dies zu verhindern, sollte die EZB ihren Einlagensatz spätestens auf der nächsten Sitzung im Juli um einen halben Prozentpunkt erhöhen. Trippelschritte um viertel Prozentpunkte werden dem massiven Inflationsproblem nicht gerecht. Die EZB sollte ihren Leitzins rasch auf das neutrale Niveau anheben, das wir zwischen zweieinhalb und drei Prozent sehen. Im Zweifel muss sie sogar darüber hinaus gehen.“
ALEXANDER KRÜGER, CHEFVOLKSWIRT HAUCK AUFHÄUSER LAMPE:
„Mit dem Ende ihrer Nettokäufe zum 1. Juli schafft die EZB die Grundlage für Zinserhöhungen. Auch hat sie ihre Inflationsprojektion für 2022/23 deutlich angehoben. Die avisierte 180-Grad-Zinswende dürfte auch wegen des hohen öffentlichen Drucks erfolgen. Die Tage der Negativzinspolitik sind jedenfalls gezählt. Letztlich dürften viele Schuldenländer dafür sorgen, dass der Umfang an Zinserhöhungen nicht aus dem Ruder läuft. Maßvoll statt radikal wird die Parole lauten.“
ANDREAS BLEY, BVR:
„Mit ihrem Signal für stetige, aber maßvolle Zinsschritte hat die EZB nun endlich die richtige Route eingeschlagen. Der Leitzins muss spürbar steigen, gleichzeitig muss die EZB den hohen wirtschaftlichen Unsicherheiten Rechnung tragen. Auf jeder der kommenden Ratssitzungen sollte ein kleiner Zinsschritt folgen, der Leitzins somit bis Jahresende auf 0,75 Prozent erhöht werden.“
MICHAEL HEISE, HQ TRUST:
„Mit der Ankündigung eines graduellen Ausstiegs aus einer superexpansiven und noch auf höhere Inflation ausgerichteten Geldpolitik geht die EZB den richtigen Weg. Da Geldpolitik nicht von heute auf morgen wirkt und wir es mit einer hohen Unsicherheit bei Inflations- und Konjunkturprognosen zu tun haben, ist es richtig, auf einen graduellen Ausstieg zu setzen. Die Kapitalmärkte werden die Geldpolitik mit moderaten Renditesteigerungen begleiten. Deutliche Zinssteigerungen der Notenbank sind bereits eingepreist.“
FRIEDRICH HEINEMANN, ZEW:
„Das Ende der Wertpapierkäufe war überfällig und kommt mindestens drei Monate zu spät. Eine zu geringe Inflation hat die EZB immer rasch und mit allen verfügbaren Mitteln bekämpft. Der jetzt viel zu hohen Inflation begegnet Europas Notenbank hingegen sehr langsam. Eine Erklärung für die Handlungsfreude der EZB bei niedriger Preissteigerung und die Passivität bei zu hoher Inflation liefert der Markt für Euro-Staatsanleihen: Die Aussicht auf eine vorsichtige Trendwende der Geldpolitik hat den Italien-Spread schon wieder auf über 200 Basispunkte ansteigen lassen. Die damit verbundene Angst vor einer neuen Euro-Schuldenkrise lähmt die EZB immer noch und schadet ihrer Glaubwürdigkeit. Es rächt sich, dass die Eurozone bis heute keine glaubwürdige Strategie für den Umgang mit überschuldeten Staaten gefunden hat.“
Ökonomen zur Zinsentscheidung der EZB
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