Berlin, 29. Jun (Reuters) – Die Inflation in Deutschland hat im Juni überraschend nachgelassen. Waren und Dienstleistungen kosteten durchschnittlich 7,6 Prozent mehr als ein Jahr zuvor, wie das Statistische Bundesamt am Mittwoch mitteilte. Von Reuters befragte Ökonomen hatten trotz des Starts von Tankrabatt und Neun-Euro-Ticket im Öffentlichen Personennahverkehr mit einem Anstieg auf 8,0 Prozent gerechnet. Im Mai war die Teuerungsrate mit 7,9 Prozent so hoch ausgefallen war wie seit dem Winter 1973/74 nicht mehr.
Analysten sagten dazu in ersten Reaktionen:
FRIEDRICH HEINEMANN, ZEW-INSTITUT:
„Die Daten für Juni unterzeichnen noch die echte Inflationsdynamik, weil der Tankrabatt vorübergehend zu einem Absinken der Spritpreise geführt hat. Dieser Effekt wird die Inflationsrate von Juni bis August dämpfen, ohne dass das eine wirkliche Entspannung signalisiert. Sehr hohe Preissteigerungen sind nicht nur bei Lebensmitteln und Energie, sondern auch in den Bereichen Gastgewerbe und auch bei dauerhaften Konsumgütern wie etwa Möbeln zu verzeichnen. Dies zeigt, dass die Inflation inzwischen die volle Breite des Warenkorbs erfasst hat. Das bedeutet, dass die Kaufkraft massiv sinkt, egal wie Verbraucherinnen und Verbraucher auch versuchen, durch Verschiebung ihres Konsums höheren Preisen auszuweichen. Dieser Inflation entkommt niemand mehr.“
ULRICH WORTBERG, HELABA:
„Dennoch bleibt die Europäische Zentralbank unter Druck, die Leitzinsen deutlich anzuheben, denn das Niveau ist weiter sehr hoch und Entwarnung vonseiten der Energiepreise kann noch nicht gegeben werden. Zudem gilt es zu berücksichtigen, dass der Preisdruck in der Euro-Zone vermutlich weiter gestiegen ist. Spanien hat beispielsweise einen Anstieg der Inflation auf EU-harmonisiert 10,0 Prozent gemeldet. Daher steht zu befürchten, dass die Teuerung im Euro-Raum auf ein neues Rekordhoch steigen wird.“
ALEXANDER KRÜGER, CHEFÖKONOM HAUCK AUFHÄUSER LAMPE:
„Der inflationäre Aufwärts-Drive ist durch staatliche Entlastungen gebremst worden. Damit ist die Inflationskuh aber nicht vom Eis. Werden die Entlastungen aufgehoben, entsteht neuer Inflationsdruck, der die Rate auf hohem Niveau hält. Ohnehin sind noch eine Menge von Preisüberwälzungen in der Pipeline. Durch den Verteilungskampf um Gas bestehen zudem hohe Inflationsrisiken. Ein großer Zinsschritt der EZB im Juli wäre besser als ein kleiner.“
JENS-OLIVER NIKLASCH, LBBW:
„Ein leichter Rückgang der Inflation also. Da hat das Entlastungspaket anscheinend doch etwas gebracht. In den Gütergruppen gab es einen leichten Rückgang des Preisauftriebs für Energie und einen etwas größeren für Dienstleistungen. Letzteres dürfte aufgrund des verbilligten Tickets für den Nahverkehr der Fall sein, das seinen niedrigen Preis ja schon im Namen trägt. Vielleicht hätte man den Tankrabatt auch Ein-Euro-Neunzig-je-Liter nennen sollen. Der Juli und der August werden wohl ähnliche Inflationsraten bringen, im September wird es dann wieder einen Sprung aufwärts geben, wenn der Nahverkehr deutlich teurer wird. Zumal die Verkehrsbetriebe erheblichen Nachholbedarf haben. Die Inflation ist erst einmal gekommen, um zu bleiben. Viel mehr kann man einstweilen nicht sagen.“
FRITZI KÖHLER-GEIB, KFW-CHEFÖKONOMIN:
„Die Erzeugerpreise sind im Mai mit 33,6 Prozent verglichen zum Vorjahr auf einen neuen historischen Höchststand geklettert. Es ist nach wie vor Dampf auf dem Kessel. Dieser treibt die Verbraucherpreis-Inflation auch im Juni. Vor allem der Krieg in der Ukraine und die Pandemie beziehungseise Chinas ‚No-Covid‘-Politik stören die Energieversorgung und die Lieferketten weiter. Das spricht gegen einen schnellen Rückgang der Inflation und birgt die Gefahr einer Lohn-Preis-Spirale. Tarifparteien in aktuellen Verhandlungen stellt das vor die Herausforderung: Sie müssen einerseits den Kaufkraftverlust für die Arbeitnehmenden jedenfalls teilweise ausgleichen und andererseits die Rückkopplungseffekte auf die Inflation begrenzen. Die Fiskalpolitik kann hier zur Entspannung beitragen, wenn sie soziale Härten abfedert. Die EZB muss mit der Zinswende liefern, um die Inflationserwartung weiter einzudämmen.“
MICHAEL HEISE, CHEFVOLKSWIRT HQ TRUST:
„Es ist eine kleine Erleichterung für die Verbraucher, dass der Juni gegenüber dem Vormonat keinen weiteren Kaufkraftverluste brachte. Allerdings handelt es sich wohl eher um eine Atempause und nicht um einen Wendepunkt in der Inflation. Der Höhepunkt der Inflation dürfte eher im September erreicht werden. Der Rückgang ist vor allem auf die staatlichen Entlastungsmaßnahmen wie Tankrabatt und Neun-Euro-Ticket zurückzuführen. Sie haben den Preisanstieg für sich genommen um schätzungsweise 0,9 Prozentpunkte gesenkt und werden im August auslaufen.
Die derzeitige Stagflation verlangt starke Gegenmaßnahmen der Wirtschaftspolitik. Ein Ansatz ist der Inflationsbonus. Die Regierung sollte die Idee des Inflationsbonus gegen Kritik verteidigen. Ein solcher Bonus, der von den Arbeitgebern steuerfrei ausgezahlt werden kann, würde die Kaufkraftverluste der Arbeitnehmer etwas kompensieren und gleichzeitig die Konfliktpotentiale in den anstehenden Tarifrunden etwas entschärfen.“
JÖRG KRÄMER, CHEFÖKONOM COMMERZBANK:
„Der überraschende Rückgang der deutschen Inflation von 7,9 auf 7,6 Prozent ist kein Grund zur Entwarnung. Denn im Juni wirkten Sonderfaktoren wie der Tankrabatt und das Neun-Euro-Ticket, das für sich genommen die Inflation fast um drei Viertel Prozentpunkte gesenkt hat. Spätestens mit dem Ende dieser Entlastungen im September sollte die Inflation wieder nach oben springen. Das gilt umso mehr, als die deutschen Unternehmen die massiv gestiegenen Materialkosten noch lange nicht vollständig an die Verbraucher weitergegeben haben.“
Ökonomen zum Rückgang der deutschen Inflationsrate
Copyright: (c) Copyright Thomson Reuters 2022
Titelfoto: Symbolfoto
Wichtige Entwicklungen zur Ukraine.