Frankfurt, 15. Dez – Die Europäische Zentralbank (EZB) hebt die Zinsen im Kampf gegen die ausufernde Inflation nicht mehr ganz so stark an wie zuletzt. Die Währungshüter um Notenbank-Chefin Christine Lagarde beschlossen am Donnerstag wie von Börsianern erwartet, den Leitzins um 0,50 Prozentpunkte auf nunmehr 2,50 Prozent zu erhöhen. Dies ist bereits der vierte Zinsschritt in Folge. Noch im September und im Oktober hatte die EZB die Zinsen in Riesenschritten um jeweils 0,75 Prozentpunkte erhöht. Die Währungshüter signalisierten zudem ihre Bereitschaft zu weiteren Zinsanhebungen.
Analysten sagten dazu in ersten Reaktionen:
THOMAS GITZEL, CHEFÖKONOM VP BANK:
„Wow, man kann es heute kaum fassen. Die EZB zeigt der Inflation die Zähne. Die EZB wird mit dem Leitzins deutlich nach oben gehen. Das wurde heute deutlich und bestätigt unsere Sicht, dass die EZB noch lange nicht am Ende ist. Christine Lagarde wurde während der Pressekonferenz deutlich: Es seien mehrere Zinserhöhungen um 50 Basispunkte notwendig. Das sind Worte, die altgediente Volkswirte an die Deutsche Bundesbank erinnern.
Die EZB ist kaum wiederzuerkennen. Lagarde eifert ihrem Amtskollegen in den USA nach. Bislang waren solch klare Töne im Kampf gegen die hohen Inflationsraten nur von der Fed zu hören – nicht aber von der EZB. Lagarde legte heute jegliche Zurückhaltung ab. Sie machte klar, dass es noch ein deutliches Stück weiter gehen wird. Nach diesen deutlichen Worten aus Frankfurt kann selbst ein Einlagensatz von deutlich über drei Prozent nicht ausgeschlossen werden. Die Zinserwartungen müssen nach dem heutigen Tag jedenfalls neu adjustiert werden.“
JENS-OLIVER NIKLASCH, LBBW:
„Eine Entscheidung mit einem eher hawkishen Grundton. Die Zinsanhebung war ja so erwartet worden. Dagegen dürfte es manchen überraschen, dass es vermutlich in dem Tempo weitergehen wird. Die höheren Inflationsprojektionen sind ein Hinweis darauf, wo die Risiken liegen. Selbst 2025 sieht die EZB das Stabilitätsziel noch nicht wieder erreicht. Der Einstieg in den Abbau des Anleiheportfolios ist mit 15 Milliarden Euro moderat.“
THOMAS ALTMANN, QC ASSET MANAGEMENT:
„Wie schon bei der US-Notenbank Fed sind auch bei der EZB 50 Basispunkte das neue Tempo. Der echte Test für die Märkte folgt ab März. Indem die EZB die Rückzahlungsbeträge aus fälligen Anleihen nicht vollständig reinvestiert, wird sie dem Markt Liquidität entziehen. Zunächst werden das 15 Milliarden pro Monat sein.
Die EZB verschiebt die wirtschaftliche Erholung weiter in die Zukunft. Für 2023 rechnen die Währungshüter nur noch mit einem Mini-Wachstum von 0,5 Prozent. Gleichzeitig erhöhen die Notenbanker ihre Inflationsprognosen für 2023 und 2024. Damit wird das so gefürchtete Stagflationsszenario ein gutes Stück wahrscheinlicher. Bis heute herrschte an den Börsen vorweihnachtliche Ruhe. Die EZB hat dieser Ruhe jetzt ein jähes Ende gesetzt.“
ALEXANDER KRÜGER, CHEVOLKSWIRT HAUCK AUFHÄUSER LAMPE:
„Die EZB liefert ihre Zinserhöhung ebenso wie bestellt ab wie ihre Ankündigung zum Geldeinsammeln. Dabei wird die Bilanzverkürzung ab März zunächst homöopathisch angegangen. Alles in allem ist der Tonfall der EZB hawkisher geworden. Offenbar avisiert die EZB einen Leitzinsgipfel oberhalb von 3,0 Prozent. Ob sie dabei bleibt oder letztlich doch Rücksicht auf Konjunktur und Staatshaushalte nehmen wird, bleibt eine offene Frage. Für 10-jährige EWU-Staatsanleihen sind die heutigen EZB-Verlautbarungen jedenfalls eine schlechte Nachricht.“
ULRICH KATER, CHEFÖKONOM DEKABANK:
„Die Zinserhöhungen müssen noch ein gutes Stück weitergehen. Zwar befindet sich die Inflationsrate in den kommenden Monaten auf dem Rückzug. Aber Spekulationen über Lockerungen sind verfrüht. Erst wenn sich die Inflation wieder in allen Teilbereichen auf zwei Prozent hinbewegt, kann über Zinssenkungen nachgedacht werden.“
JÖRG KRÄMER, CHEFÖKONOM COMMERZBANK:
„Ich hätte mir von der EZB einen großen Zinsschritt um 0,75 Prozentpunkte gewünscht – nicht nur eine Erhöhung um einen halben Prozentpunkt. Schließlich ist die Inflation im Euroraum viel zu hoch. Immer mehr Menschen bezweifeln, dass es der EZB gelingt, die Inflation mittelfristig wieder auf zwei Prozent zu drücken. Die EZB muss viel entschiedener vorgehen. Wir brauchen einen EZB-Einlagensatz von mindestens vier Prozent.“
MICHAEL HEISE, CHEFVOLKSWIRT HQ TRUST:
„Zwar wird die hohe Inflation von derzeit rund zehn Prozent mit der Stabilisierung der Energiepreise in den kommenden Monaten zurückgehen, aber für das Gesamtjahr 2023 hat die EZB ihre Projektion abermals auf nunmehr 6,3 Prozent erhöht. Es besteht damit die Gefahr, dass sich die Inflationserwartungen, die an den Finanzmärkten wie bei privaten Haushalten weit über dem Stabilitätsziel der EZB liegen, auf viel zu hohem Niveau verfestigen. Die Beschlüsse zur Rückführung der Wertpapierbestände, die über das Anleihekaufprogramm APP erworben wurden, werden die Renditen an den Kapitalmärkten tendenziell steigen lassen. Das ist der Preis für viele Jahre einer super-expansiven Geldpolitik, die die Bilanz der Zentralbank aufgebläht hat. Ein Ende der Zinssteigerungen in der Euro-Zone ist angesichts der hartnäckigen Inflation noch nicht absehbar. Es wird voraussichtlich zu einem späteren Zeitpunkt stattfinden als in den USA.“
FRIEDRICH HEINEMANN, ZEW-INSTITUT:
„Diese Zinserhöhung sollte trotz der Sorgen um die Konjunktur nicht der letzte Schritt gewesen sein. Der Realzins als Differenz zwischen Zinsen und der in den nächsten zwei Jahren erwarteten Inflation befindet sich auch jetzt noch klar im negativen Bereich. Damit liegen die nun erreichten 2,5 Prozent immer noch unter einem neutralen Zinsniveau. Nimmt man die unverändert aufgeblähte Zentralbankbilanz hinzu, dann ist die EZB-Geldpolitik nach wie vor expansiv. Es geht darum, dass der EZB-Rat jetzt durch eine kontinuierliche weitere Straffung verloren gegangene Glaubwürdigkeit zurückgewinnt. Wenn es nicht noch zu einem überraschend scharfen Einbruch der Konjunktur kommt, darf es daher weder bei den Zinserhöhungen noch beim Einstieg in den Bilanzabbau zu Jahresbeginn 2023 irgendein Zaudern oder Zögern geben.“
Ökonomen zur Zinserhöhung der EZB um 0,50 Prozentpunkte
Quelle: Reuters
Titelfoto: Symbolfoto
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