Berlin/Brüssel, 31. Okt – Die Inflation im Euro-Raum ist im Oktober erstmals seit der Einführung des Euro über die Marke von zehn Prozent geklettert. Die Verbraucherpreise stiegen angeheizt durch den anhaltenden Preisschub bei Energie binnen Jahresfrist um 10,7 Prozent, wie das Statistikamt Eurostat am Montag auf Grundlage einer ersten Schätzung mitteilte. Das ist das höchste Niveau seit Einführung des Euro 1999. Von Reuters befragte Experten hatten nur mit 10,2 Prozent gerechnet, nach einer Teuerungsrate von 9,9 Prozent im September. Trotz Rekordinflation und Ukraine-Krieg wuchs die Wirtschaft der Euro-Zone im Sommer etwas. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) stieg zwischen Juli und September um 0,2 Prozent zum Vorquartal, wie Eurostat mitteilte. Von Reuters befragte Fachleute hatten damit gerechnet.
Analysten sagten zu den Daten in ersten Reaktionen:
JÖRG ZEUNER, CHEFÖKONOM UNION INVESTMENT:
„Es ist eine gute Nachricht: Die Wirtschaft der Euro-Zone wächst noch. Allen Widrigkeiten zum Trotz haben der anhaltende Beschäftigungsaufbau und ein immer umfangreicheres regulatorisches und fiskalpolitisches Eingreifen verhindert, dass der Konsum infolge des inflationsbedingten Realeinkommensverlusts sinkt. Dazu beigetragen haben auch Ersparnisse der Konsumenten aus der Zeit der Pandemie. Die zweite gute Nachricht: Deutschland hat zur Stärkung des europäischen BIP beigetragen.
Grund zum Jubel besteht trotzdem nicht. Die BIP-Zahlen deuten wie viele andere Indikatoren darauf hin, dass die Konjunktur über den Sommer deutlich an Fahrt verloren hat. Im Winterhalbjahr wird die Wirtschaftsleistung rückläufig sein. Die Gründe dafür sind vor allem die hohen Energiepreise, die mittlerweile nicht mehr nur die Industrie, sondern auch den Dienstleistungssektor belasten. Und auch den Verbrauchern machen die gestiegenen Lebenshaltungskosten zu schaffen. Hinzu kommt, dass die steigenden Finanzierungskosten auch die Unternehmensinvestitionen hemmen.
Schnelle Linderung ist nicht in Sicht. Durch die hohen Teuerungsraten bleibt die Europäische Zentralbank unter Druck. Mit einer geldpolitischen Wende in der Euro-Zone oder einem Rückgang der Finanzierungskosten ist also vorerst nicht zu rechnen.“
ELMAR VÖLKER, LANDESBANK BADEN-WÜRTTEMBERG:
„Die Wachstumsdaten für das dritte Quartal waren nicht ganz so schlecht wie befürchtet, die Inflationsentwicklung dafür noch dramatischer. Beides hatte sich am Freitag mit den für Deutschland veröffentlichten Zahlen bereits abgezeichnet. Die Wirtschaft hält sich noch knapp oberhalb der Schwelle zur Rezession, wobei im Sommer vor allem Deutschland und Italien positiv überrascht haben. Die wachsenden Anzeichen eines Kontrollverlusts bei der Inflation, die einmal mehr alle Erwartungen übertroffen hat, lassen jedoch nichts Gutes für das Winter-Halbjahr erwarten.
Auch wenn das Wetter noch vergleichsweise milde ist, schauen wir wirtschaftlich in einen kalten, dunklen Abgrund. Aus Sicht der Geldpolitik dürfte das Spannungsfeld zwischen Rezessionssorgen und Inflationsgefahren weiter zunehmen. Da ein Zenit bei der Inflation noch immer nicht in Sicht ist, gehen wir einstweilen davon aus, dass sich auch auf der Dezember-Sitzung der EZB die Falken mit dem Plädoyer für einen weiteren Zinsschritt von 0,75 Prozentpunkten durchsetzen werden.“
ALEXANDER KRÜGER, CHEFVOLKSWIRT HAUCK AUFHÄUSER LAMPE:
„Die Inflationsrate steigt, und sie wird vorerst auch zweistellig bleiben. Anders als zuletzt signalisiert, sollte die EZB die Inflationsbekämpfung wieder ernster nehmen. Die Euro-Zonen-Wirtschaft scheint vom Zaubertrank der Gallier getrunken zu haben. Angesichts der Energiekrise ist der BIP-Zuwachs ordentlich. Wegen hell leuchtender Rezessionssignale scheint nun aber kaum noch Zaubertrank vorhanden zu sein. Vor allem der Konsum dürfte zu einer im Winterhalbjahr leicht schrumpfenden Wirtschaftstätigkeit beitragen.“
JÖRG KRÄMER, CHEFÖKONOM COMMERZBANK:
„Mit 10,7 Prozent liegt die Inflation schon jetzt meilenweit über den 9,2 Prozent, die die EZB für das vierte Quartal erwartet. Auf diese Inflationsrisiken sollte sich die EZB gemäß ihres Mandats auf der Dezember-Sitzung konzentrieren – und nicht auf die Rezessionsrisiken. Der Euro-Raum braucht im Dezember einen weiteren großen Zinsschritt um 0,75 Prozentpunkte.“
Ökonomen zur Rekordinflation im Euroraum und zum Wirtschaftswachstum
Quelle: Reuters
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