UPDATE Berlin, 09. Nov – Die deutsche Wirtschaft muss sich Ökonomen und Verbänden zufolge nach den US-Kongresswahlen auf schwierigere Geschäfte mit ihrem wichtigsten Exportkunden einstellen. „Der Gegenwind wird stärker – und kälter“, sagte der Präsident des Kiel Instituts für Weltwirtschaft (IfW), Holger Görg, am Mittwoch der Nachrichtenagentur Reuters. Derzeit verfügen die Demokraten von Joe Biden über ein knappes Übergewicht sowohl im Senat als auch im Repräsentantenhaus, könnten aber zumindest in Letzterem ihre Mehrheit an die Republikaner verlieren. „Handelserleichterungen zwischen den USA und der EU werden mit einem republikanisch dominierten Kongress nicht zu machen sein“, sagte Görg. Es dürften daher zwei kritische Jahre bis zur nächsten Wahl werden – „nicht nur für Präsident Biden, sondern auch für europäische Länder und den Rest der Welt“.
Die deutsche Industrie warnt vor einer Verschlechterung der Wirtschaftsbeziehungen. „Die Fortschritte und Annäherungen der vergangenen zwei Jahre müssen bewahrt und ausgebaut werden“, forderte der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), Siegfried Russwurm. „Keinesfalls dürfen sich der Einfluss isolationistischer Stimmen, die die Chancen und Möglichkeiten offener Märkte ablehnen, sowie der Trend zu Protektionismus und unfairer Priorisierung der heimischen Industrie verstärken.“ Vor allem der im August verabschiedete Inflation Reduction Act (IRA) besorgt die deutsche Industrie. „In einigen Bereichen droht das Gesetz europäische und andere ausländische Unternehmen massiv zu benachteiligen“, sagte Russwurm.
„AKTUELL EIN HOFFUNGSSCHIMMER“
Die Unternehmen setzen ungeachtet der auch bei den Zwischenwahlen zutage getretenen tiefen politischen Spaltung auf ein florierendes US-Geschäft. 56 Prozent der in den Vereinigten Staaten tätigen deutschen Firmen rechnen aktuell mit besseren Geschäften, geht aus der Reuters vorliegenden Umfrage des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK) hervor. Im weltweiten Durchschnitt sind es hingegen nur 37 Prozent. „Aktuell sind die Vereinigten Staaten ein Hoffnungsschimmer in einer ansonsten sehr trüben außenwirtschaftlichen Konjunktur“, sagte DIHK-Experte Volker Treier. Etwa 5600 deutsche Unternehmen sind in den USA aktiv, die dort zusammen 637 Milliarden Dollar investiert haben und mehr als 880.000 Mitarbeiter zählen.
Dass der Ausgang der US-Zwischenwahlen auch die Wirtschaft betrifft, zeigt eine weiteres Umfrageergebnis: Mit aktuell 42 Prozent nennen deutsche US-Firmen die wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen als ein konjunkturelles Hauptrisiko. „Trotz der großen Marktchancen stehen die Unternehmen in den USA vor vielen Handelshemmnissen“, sagte DIHK-Außenwirtschaftschef Treier. Hohe Zölle etwa auf Automobilimporte, protektionistische Maßnahmen wie „Buy America“-Vorgaben in der Beschaffung oder der „Jones Act“, der deutsche Unternehmen von Dienstleistungen im maritimen Bereich ausschließt, seien nur einige Beispiele.
LAHME ENTE?
ING-Chefvolkswirt Carsten Brzeski zufolge könnte Biden in den kommenden beiden Jahren zur „lahmen Ente“ werden. „In Zeiten, in denen sich die US-Wirtschaft Richtung Rezession bewegt, verspricht das auch für die deutsche Wirtschaft wenig Gutes“, sagte Brzeski. „Denn im Falle einer Rezession, die wir für die erste Jahreshälfte 2023 erwarten, wird es keine Einigkeit für Konjunkturpakete geben.“ Da die boomende US-Wirtschaft zuletzt eine der wenigen Stützen der deutschen Exporteure gewesen sei, berge der Ausgang der Zwischenwahlen einen zusätzlichen Risikofaktor für die Wirtschaftsaussichten. In kein anderes Land verkaufen die deutschen Unternehmen so viel wie in die Vereinigten Staaten: Von Januar bis September wuchsen die Exporte dorthin um 29,2 Prozent auf knapp 116 Milliarden Euro.
Für weniger dramatisch hält Commerzbank-Chefvolkswirt Jörg Krämer die Folgen der US-Zwischenwahlen für die hiesige Wirtschaft. „Die Demokraten stehen den Republikanern in Sachen Protektionismus in nichts nach“, sagte Krämer. Außerdem liege die Kompetenz für Außen- und Wirtschaftspolitik größtenteils beim amerikanischen Präsidenten. Nur für Freihandelsabkommen bräuchte er die Zustimmung des Kongresses. „Aber ein neues Abkommen zwischen den USA und der EU steht leider ohnehin nicht an“, sagte Krämer.
Ökonomen erwarten mehr Gegenwind für deutsche Exporteure nach US-Wahl
Quelle: Reuters
Titelfoto: Bild von Lisa Gielis auf Pixabay
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