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Massenhaft Ökostrom und Platz – Deutschlands Norden bläst zur Aufholjagd

Berlin/Rostock, 10. Aug (Reuters) – Die beschaulichen Gemeinden Lohe-Rickelshof und Norderwöhrden im Kreis Dithmarschen gelten bisher nicht unbedingt als Zentrum des Industrielands Deutschland. Aber bald sollen dort bei Heide in Schleswig-Holstein bis zu 3000 Arbeitsplätze entstehen, um eine Million Batterien für Elektroautos pro Jahr zu produzieren. Die Ansiedlung des schwedischen Unternehmens Northvolt ist nur das jüngste Beispiel für einen Trend, den die Energiewende ausgelöst hat und der durch die Gaskrise noch zusätzlichen Schub bekommen könnte: Dem wirtschaftlichen Aufschwung der norddeutschen Bundesländer, die viele abgesehen von VW und Städten wie Hamburg bisher eher mit Deichen und reetgedeckten Häusern verbunden haben. „Nach jahrzehntelanger Dominanz erst des Westens und dann des Südens in Deutschland legt nun der Norden los“, konstatiert Hanno Kempermann vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW).

Das zeigt zum Beispiel die IW-Entwicklungsanalyse der 400 deutschen Landkreise und kreisfreien Städte, die im Juni 2022 vorgestellt wurde. Hier ergibt sich ein klares Bild: Vor allem im Norden und Nordwesten liegen viele der Aufsteigerlandkreise. „Wir sehen, dass die Industrieentwicklung in den Nordländern deutlich überdurchschnittlich war und ist – und deutlich besser als in Baden-Württemberg und Bayern. Dies zeichnete sich schon vor der Corona-Pandemie ab“, sagt auch Martin Gornig, Forschungsdirektor Industriepolitik beim Deutschen Institut für Wirtschaftspolitik (DIW) in Berlin. Er verweist auf die amtliche Statistik der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung der Länder. Danach hat die Bruttowertschöpfung im verarbeitenden Gewerbe vor allem in Niedersachsen, aber auch in Schleswig-Holstein von 2015 bis 2021 deutlich stärker zugenommen als etwa in den reichen Ländern Bayern und Baden-Württemberg. Allerdings von einem niedrigeren Niveau aus: In Schleswig-Holstein liegt der Anteil des verarbeitenden Gewerbes nur bei 15,3 Prozent der gesamten Wertschöpfung – im gesamten Bundesgebiet bei 23,1 Prozent.

STANDORTVORTEIL – ÖKOSTROM IM ÜBERFLUSS 

Was ist das Geheimnis des Nordens? Auf den Punkt gebracht: billige, grüne Energie. Windkraft ist eine Ressource, die es im Norden im Überfluss gibt. Den Daten des Bundesverbands Windenergie (BWE) zufolge produzierte Spitzenreiter Niedersachen 2021 mit Windrädern an Land knapp 12 Gigawatt an Leistung, etwa 18 Prozent der in Deutschland produzierten Windenergie von rund 64 Gigawatt. Zusammen mit den anderen Nordländern Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern und der auf Nord- und Ostsee produzierten Windenergie summiert sich der Anteil auf knapp die Hälfte. Gerade der offshore generierte Strom – 2021 waren es 7,7 Gigawatt – soll noch massiv gesteigert werden: Nach den Planungen des Bundes sollen bis 2030 Windräder auf hoher See mindestens 30 Gigawatt liefern, bis 2035 mindestens 40, bis 2040 mindestens 70 Gigawatt. Wegen des jahrelang verschleppten Ausbaus von Hochspannungsleitungen in den Süden kann der ganze Strom derzeit gar nicht aus dem Norden abfließen. „Wir haben eine Region gefunden, die bereits einen Energieüberschuss hat, was einzigartig in Deutschland ist“, schwärmte Northvolt-Geschäftsführer Peter Carlsson im NDR von seinem neuen Standort.

Die Verfügbarkeit von billigem Ökostrom setzt eine Kettenreaktion wirtschaftlicher Entwicklungen in Gang. Schon früher habe sich Industrie dort angesiedelt, wo es günstige und verfügbare Energie gab – im Ruhrgebiet wegen der Kohle, oder im Süden wegen des Atomstroms, erläutert IW-Forscher Kempermann. „Aber jetzt ist Ökostrom ein sehr wichtiger Faktor geworden. Jedes Unternehmen, jedes Rechenzentrum, jeder Dienstleister fragt mittlerweile danach“, beschreibt er die Relevanz. „Und wegen der CO2-Bepreisung wird es perspektivisch sehr, sehr teuer, wenn ein Unternehmen keinen Ökostrom zur Verfügung hat.“

Milliarden-Investitionen fließen in den Norden: Neben Northvolt in Schleswig-Holstein siedelte sich der US-Elektroauto-Pionier Tesla in Brandenburg an. Am niedersächsischen Standort Salzgitter investiert Volkswagen in ein riesiges Batteriewerk. Die Kreise träumen davon, dass sich im Umkreis der Fabriken ein Netz an Zulieferern ansiedeln wird. Niedersachsens Wirtschaftsminister Bernd Althusmann freut die Entwicklung: „Niedersachsen und der Norden bieten vor allem energieintensiven Branchen eine Reihe von Vorteilen und sehr gute Perspektiven. Insofern erleben wir tatsächlich ungeachtet der momentanen Krise eine Aufbruchstimmung im Norden“, sagte er zu Reuters. 

„Der Norden hat mit der Energiewende die Chance, industriell nach vorne zu kommen“, sagt Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig im Reuters-Interview. Die OECD habe deutlich gemacht: Der Norden in Deutschland könne Weltmarktführer beim Thema Erneuerbare Energien werden. „Wir sind hier ganz klar im Vorteil und den wollen wir nutzen“, fügt sie hinzu. Die Landesregierung habe erste „grüne“ Gewerbegebiete ausgewiesen, die nur mit dem von Firmen zunehmend geforderten Ökostrom betrieben würden. 

ZUKUNFTSTRÄCHTIGE WASSERSTOFFPRODUKTION

Mit günstiger, grüner Energie lässt sich zum Beispiel Wasserstoff produzieren, ein Energieträger, der als die Zukunft einer klimaneutralen Produktion etwa in der energieintensiven Chemie- und Stahlindustrie gesehen wird. Wasserstoff-Experte Michael Sterner, Professor an der OTH Regensburg, sieht es so: „Der Norden hat alles, was man für die Wasserstoff-Wirtschaft braucht: billige Energie im Überfluss, Leitungen und die Möglichkeit, Wasserstoff zu speichern“. Kein Wunder, dass in dem Bund geförderten neuen Wasserstoff-Atlas die größten Potenziale ganz klar in den Nordstaaten eingezeichnet sind. „Hier müssen die großen Elektrolyseanlagen entstehen – nicht weil es der Norden ist, sondern weil die Rahmenbedingungen so sind“, sagte auch Wirtschaftsminister Robert Habeck kürzlich auf einer Konferenz der norddeutschen Ministerpräsidenten. 

In Rostock soll in den nächsten vier Jahren auf dem Gelände des dortigen Steinkohlekraftwerks eine 100-Megawatt-Anlage für grünen Wasserstoff entstehen. Viel größer denkt man in Niedersachsen mit dem Konzept „Energy hub“ für den einzigen deutschen Tiefseewasserhafen Wilhelmshaven. Nach Ansicht der Planer könnten Import und Erzeugung von Wasserstoff bis 2030 dort 50 Prozent des deutschen Bedarfs abdecken. Die Region an der Nordseeküste könnte mit Elektrolyse, Industrie sowie der Möglichkeit zur Wasserstoff-Speicherung zu einem Zentrum der Wirtschaftsentwicklung werden. UniperUN01.DE erhielt gerade einen Förderbescheid des Landes Niedersachsen, um am Standort des Erdgasspeichers Krummhörn bis 2024 bis zu 250.000 Kubikmeter Wasserstoff zu speichern. Das erhöht die Versorgungssicherheit mit Wasserstoff auch für die industrielle Nutzung.

Zu den neuen Vorteilen im Norden kommen neue Nachteile im Süden: Die Stromversorgung dort wird unsicherer. Der Bau großer Stromtrassen aus dem Norden verzögert sich durch die Vielzahl der Einsprüche von lokalen Anwohnern und Gemeinden immer weiter, die Betriebszeit der Atomkraftwerke läuft aus und Gas ist wegen der gekürzten Lieferungen von Russland von einem begehrten Energieträger plötzlich zum Problem für die Firmen geworden. Ohne billige Öko-Energie im Überschuss kommt aber auch keine Wasserstoffproduktion für den klimaneutralen Übergang infrage. Schon 2021 empfahlen der Stromnetzbetreiber Tennet sowie die Gasnetzbetreiber Gasunie und Thyssen-Krupp in einer Studie, Wasserstoff möglichst küstennah in Niedersachsen und Schleswig-Holstein zu produzieren – und eben nicht in Bayern.

„Wir wundern uns schon lange im Nordosten, dass die Netze nicht ausgebaut werden“, sagt nun Mecklenburg-Vorpommerns Landeschef Schwesig (SPD) in Anspielung auf Bayern und Baden-Württemberg. Im März kritisierte auch Bayerns Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger (Freie Wähler) die „politische Naivität“ der bayerischen Energiepolitik über viele Jahre. Den Wirtschafts- und Industriestandort Bayern könne man nicht auf die Schnelle komplett auf erneuerbare Energien umstellen. Um eine Stromlücke zu verhindern, fordert Bayerns Ministerpräsident Markus Söder vehement, zumindest die Laufzeiten der letzten drei Atomkraftwerke, eines davon in Bayern, zu verlängern.

„ES TOBT EIN MACHTKAMPF ZWISCHEN NORDEN UND SÜDEN“

Nach der deutschen Einheit dominierten vor allem die Ost-West-Vergleiche die Wahrnehmung – nun heißt es also Norden gegen Süden. Bei den norddeutschen Ministerpräsidenten ist fast eine Euphorie zu spüren – in Bayern dagegen Frust. „Es tobt derzeit ein großer, stiller Machtkampf zwischen dem Norden und dem Süden“, beschreibt es ein Regierungschef, der namentlich nicht genannt werden will. Jahrelang hätten Südländer wie Bayern oder auch Nordrhein-Westfalen in Berlin Lobbyarbeit betrieben, dass die Offshore-Windenergie nicht schneller ausgebaut wird, um die eigenen Standorte zu schützen, die eben mit Kohle, Gas und Atomstrom betrieben wurden. Nun will und muss die Ampel-Koalition die Erneuerbaren Energie im Eiltempo vorantreiben. 

Dabei hilft, dass der Hamburger Olaf Scholz Kanzler und der Schleswig-Holsteiner Robert Habeck Bundeswirtschaftsminister ist. Beide haben sich auf Landesebene bereits um die Aufholjagd des Nordens gekümmert. Bayerns Ministerpräsident und CSU-Chef Söder wiederum hatte sich noch vor der Bundestagswahl offen damit gebrüstet, wie viele Bundes-Subventionen die CSU mit ihrer Regierungsbeteiligung im Bund über die Jahre nach Bayern umgelenkt habe. Seit der Wahl beklagt er, dass Bayern nun gar keine Stimme mehr im Ampel-Kabinett habe. Für die Ansiedlung des Batterieherstellers Northvolt in Schleswig-Holstein gab der Bund 155 Millionen Euro dazu. 

Allerdings fordert Ministerpräsidentin Schwesig weitere Maßnahmen des Bundes: Denn einen weiteren Schub für den Norden brächte es, wenn der billige Windstrom selbst bei einer küstennahen Nutzung nicht durch hohen Netzentgelte wieder teurer gemacht würde: „Ich habe die Bundesregierung gebeten, diese Ungerechtigkeit endlich zu beenden“, sagt die SPD-Politikerin zu Reuters. „Es kann nicht sein, dass wir hier im Norden die Windenergie produzieren, damit auch die Belastung haben … und gleichzeitig die höchsten Strompreise haben.

NEUE TECHNOLOGIEZENTREN 

Die Ansiedlung der Energieerzeugung im Norden leistet auch einem weiteren Trend Vorschub: Der Bildung von neuen Technologiezentren. „Wenn die Nordländer auf Windenergie setzen, dann wird auch dort an dieser Technologie geforscht“, sagt DIW-Forscher Gornig. Und an den Technologien, die damit zusammenhängen. So gibt es jetzt etwa das geförderte „Norddeutsche Reallabor“ mit 50 Partnern, das erforscht, wie man Wasserstoff in industriellen Prozessen einsetzen kann. Im Projekt „Westküste 100“ in Schleswig-Holstein geht es ebenso um die Dekarbonisierung der Industrie.

Die Ansiedlung von Batteriewerken im Norden ist ein Vorteil für die dortigen Automobilwerke. Die Autoindustrie befindet sich im Umbau – weg vom Verbrenner, hin zur Elektromobilität, neue Zentren entstehen, etwa durch das neue Tesla-Werk in Grünheide. „Wenn es größere Brüche in der Technologieentwicklung wie etwa beim Auto gibt, dann können sich Firmen leichter auch in anderen Regionen ansiedeln und müssen dies nicht dort tun, wo es bereits starke Cluster für alte Technologien gibt“, sagt Gornig. „Bei einem technologischen Neustart spiele auch eine eingespielte alte Forschungslandschaft nicht mehr eine so entscheidende Rolle“, fügt er mit Blick auf die viel höhere Forscherdichte im Süden hinzu. Neben den Kosten geht es dabei auch um Image. Wer seine E-Autos als Beitrag zum Umweltschutz verkauft wie Tesla oder VW, muss die Wagen eben auch mit grünen Strom produzieren, um glaubwürdig zu bleiben.

Dazu kommt nach Ansicht von IW-Forscher Kempermann noch ein weiterer Faktor – Platz. „Gerade für sogenannte Greenfield-Investitionen, also komplette Neuansiedlungen von Fabriken, hat der Norden mit verfügbaren Industrieflächen gegenüber dem dicht besiedelten Süden mittlerweile Vorteile.“ Dies habe etwa bei Northvolt, aber auch bei Ansiedlungen wie von Tesla in Brandenburg und Intel in Magdeburg mit großem Platzbedarf für die Fabriken eine große Rolle gespielt. 

AUFHOLJAGD – ABER NICHT AUF DER ÜBERHOLSPUR

Wie weit der durch die Energiewende ausgelöste Schwung tragen wird, ist allerdings noch unklar. Ohnehin ist die Entwicklung im Norden nicht einheitlich. In der IW-Standort-Studie zeigt sich ein deutlicher Unterschied zwischen der erwarteten positiven Entwicklung in Schleswig-Holstein und Niedersachsen und einer weit weniger günstigen Prognose für Mecklenburg-Vorpommern. Als Grund nennt Kempermann etwa die mangelnde Dichte der Bevölkerung, relativ wenige Forschungseinrichtungen und weniger Unterstützung durch die Politik. Große Ansiedlungen wie Tesla oder Northvolt hätten sich zudem in der Nähe großer Städte mit leistungsfähigen Universitäten angesiedelt, die den nötigen Nachwuchs ausbilden. Denn die Verfügbarkeit qualifizierter Arbeitskräfte ist neben Ökostrom und Flächen ein dritter wichtiger Standortfaktor. 

Das will der Ostbeauftragte der Bundesregierung, Carsten Schneider, allerdings nicht gelten lassen. „In Mecklenburg-Vorpommern gibt mit Rostock und Greifswald zwei sehr gute Universitäten. Und es gibt einen neuen Typ Startups, die nicht mehr auf Berlin und die Großstädte fixiert sind – es zählt auch der Freizeitwert, und der ist hoch im Norden“, sagt er zu Reuters mit Blick auf die nötige Mitarbeiter-Anwerbung. 

Oliver Holtemöller, Ökonom an der Universität Halle-Wittenberg, ist mit Blick auf die Wirtschaftsentwicklung im Norden skeptischer als seine Kollegen. Der Norden hole auf, aber er sei nicht auf der Überholspur. „Ich sehe keine Trendumkehr“, sagt er und verweist auf die wirtschaftlichen Stärke des reichen Südens. Große Mengen an Ökostrom seien vor allem für energieintensive Betriebe wichtig. Aber Wachstum entstehe of in ganz anderen Bereichen. Der entscheidende Engpass im Norden seien auch die verfügbaren Arbeitskräfte. „Das Paket muss stimmen, Firmen haben keine eindimensionale Sichtweise etwa auf Energie“, fügt Holtemöller hinzu. „Und Baden-Württemberg und Bayern werden nicht einfach zusehen, wenn sich Unternehmen nun vor allem im Norden ansiedeln.“

NEUER SCHUB DURCH FLÜSSIGGAS?

Die Gaskrise hat dem Norden allerdings noch einen Trumpf in die Hand gespielt: Flüssiggas (LNG). Weil Deutschland Ersatz für russische Gaslieferungen braucht, sollen an der norddeutschen Küste insgesamt fünf schwimmende LNG-Terminals und später dann feste Anlandestellen entstehen, in denen unter hohem Druck verflüssigtes und auf Spezialschiffen herantransportiertes Gas für den Gebrauch wieder aufbereitet wird. In Brunsbüttel, Wilhelmshaven, Stade und Lubmin sollen die Milliarden-Projekte in Rekordzeit gebaut werden. Der Clou dabei: Die festen Terminals sollen später für die Verarbeitung von Wasserstoff umrüstbar sein. So entsteht im Norden nebenbei die Basis für die künftige Energieversorgung eines klimaneutralen Zeitalters. Und Schwesig betont, dass dabei ausgerechnet die umstrittenen Investitionen in die Gaspipelines Nord Stream 1 und 2 ein Vorteil für Lubmin seien: Denn dadurch gebe es bereits eine Anlandestation und ein Riesenverteilnetz, das man nun für LNG-Gas nutzen könne.

Massenhaft Ökostrom und Platz – Deutschlands Norden bläst zur Aufholjagd

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Titelfoto: Symbolfoto

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