Berlin, 24. Aug – Nach Jahrzehnten der Krise und unzähligen Spar-Programmen gäbe es für einen Eisenbahner wie Jörg Hensel eigentlich Grund zum Feiern: „Es regnet Brei“, stellt der Gewerkschafter und Betriebsrat fest. Das Problem: „Wir haben keine Löffel. Die Ressourcen sind knapp – oder sind gar nicht vorhanden.“ Immer mehr Firmen wollten etwa aus Klimaschutz-Gründen ihre Güter auf die Schiene bringen – oder müssten es wegen des Niedrigwasser. Aber Aufträge werden schon seit Monaten abgelehnt. Rund 100 Züge stünden jeden Tag auf den Bahnhöfen und kämen nicht weg. Das Hauptproblem sei das marode Netz. Und der Druck wird dort noch steigen: Militär-Transporte rollen nach Osten sowie Getreidezüge aus der Ukraine nach Westen. Der Bund will nun mehr Kohle- statt Gas-Kraftwerke am Netz, der Brennstoff soll mit Hochdruck und Vorrang zu den Meilern. Fast die Hälfte der IC und ICE waren zuletzt schon unpünktlich, jetzt müssen sie wie andere Güterzüge auch noch hinter Kohlezügen her zuckeln.
BAHN-CHEF: WEITER SO KEINE ALTERNATIVE
Ende Mai musste Bahn-Chef Richard Lutz den Offenbarungseid für das rund 33.000-Kilometer-Schienenetz leisten. Das Netz müsse grundlegend saniert werden, die Betriebslage sei kritisch: „Es braucht ein grundsätzliches, ein radikales Umsteuern. Ein weiter so ist definitiv keine Alternative.“ Die Sanierung im großen Stil kann aber erst 2024 beginnen. Jetzt müssen nach dem Unglück in Garmisch-Partenkirchen auf dem strapazierten Netz auch noch 200.000 Betonschwellen ausgetauscht werden. Folge: Nochmal über 150 Baustellen.
Dabei ist die Bahn nach dem Abflauen der Corona-Krise bei Passagieren wie Industrie gefragt wie nie. „Die Autoindustrie würde schon jetzt mehr mit der Bahn transportieren – wir haben aber keine Kapazität“, bedauert Hensel, Leiter der Fachgruppe Güterverkehr in der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG). Im Gegenteil wird dort jetzt wieder mehr mit dem Lkw gefahren, obwohl auch das Fahrer und Fahrzeuge knapp sind. Hensels Problem-Liste nimmt so kaum ein Ende. Personal sei sowieso knapp, dazu kämen hohe Krankenstände wegen Corona, zum Herbst wird da kaum mit Rückgang gerechnet: „Es sind Stellwerke unterbesetzt oder können gar nicht besetzt werden – das heißt, es fährt kein Zug.“ Und er zählt weiter auf: „Die Hitze tut ihr übriges: Weichen-Zungenbrüche, Gleislage-Fehler, Stellwerk- und Signaldefekte.“ Hochöfen hätten wegen Rohstoffmangels schon kurz vor der Abschaltung gestanden. Die Krise auf der Schiene Das alles spüre der Bürger so nicht nur als Passagier, sondern auch als Kunde im Supermarkt: „Bestimmte Getränke sind zur Zeit in Regalen nicht verfügbar.“
INDUSTRIE SCHLUG SCHON ALARM
Die Industrie hatte schon im vergangenen Winter – vor Ukraine-Krieg und Energie-Krise – Alarm geschlagen. Viele Konzerne äußern ihre Sorgen aber eher verhalten oder anonym – niemand will es sich mit dem Staatskonzern verderben. „Das ist alles besorgniserregend“, sagt jedoch ein Vertreter aus den Verbänden. Vor allem mit Blick auf den Herbst, wenn die Kraftwerke richtig laufen und gefüttert werden wollen, werde es kritisch: „Es braut sich was zusammen.“
Das sieht auch das Netzwerk Europäischer Eisenbahnen (NEE) so. Die Konkurrenten des einstigen Monopolisten Deutsche Bahn haben mittlerweile im Güterverkehr einen Marktanteil von rund der Hälfte. Sorgen macht sich Geschäftsführer Peter Westenberger dabei vor allem mit Blick auf den geplanten Vorrang für Kohle- oder Öl-Transporte auf der Schiene. Eine entsprechende Verordnung hat die Regierung am Mittwoch beschlossen, damit auch Kohlekraftwerke aus der Reserve wieder mit Kohle versorgt werden können. Dafür sollen Gas-Anlagen abgeschaltet und deren Brennstoff für den Winter gespart werden.
Zudem könnten Mineralöl-Produkte bevorzugt nach Ostdeutschland gebracht werden. Hintergrund: Die Raffinerien von Schwedt und Leuna hängen noch am russischen Öl, das aber ab Januar komplett ersetzt werden soll. Wenn die Raffinerien dann aber nicht mehr unter Volllast laufen sollten, müsste die Region aus dem Westen mitversorgt werden. Nur Militärtransporte bekommen der Verordnung zufolge auf dem Netz eine noch höhere Priorität.
„Wir stehen dem insgesamt sehr skeptisch gegenüber“, sagt Westenberger. Er fürchtet ein Gerangel um die verbleibenden Kapazitäten auf dem Netz. Jeder Industrie-Kunde sehe seine Waren natürlich als wichtig an. „Die Priorisierung wird alle treffen. Es wird ein Ringen darum geben, welche Kunden am wichtigsten sind.“ Transporte, die einmal auf der Straße gelandet seien, kämen häufig nicht zurück. „Es entstehen Kollateralschäden.“
Die Deutsche Bahn selbst gibt sich dagegen zuversichtlicher. Die Verordnung der Regierung sei sinnvoll, sagt ein Sprecher von DB Cargo. „Wir bereiten uns darauf vor, ab Herbst mehr Kohlezüge zu fahren.“ Derzeit rollten wöchentlich rund 50 Züge mit jeweils knapp 3000 Tonnen Steinkohle zu verschiedenen Großkraftwerken.
Cargo-Betriebsratschef Hensel rechnet damit, dass es künftig gut 40 Prozent mehr werden sollen. Es hänge dann viel vom Wasserstand des Rheins ab wieviel mehr die Gleise dann noch tragen müssten. Das liege auch an den Waggons, denn wegen des eigentlich geplanten Kohleausstiegs gebe es davon auch weniger. Knapp 1000 seien jetzt im Einsatz, allein 400 seien in den letzten Wochen reaktiviert worden. 200 seien vielleicht noch im Ausland zu beschaffen. Hunderte weitere müssten erst durch eine Art TÜV, um wieder fahren zu können. „Ich sage, das wird richtig ruckelig.“ Es werde nicht bei täglich 100 stehenden Güterzügen bleiben. „Zum Herbst hin erwarte ich 250 bis 300 stehende Züge – allein bei der Deutschen Bahn.“
Korn, Kohle und Kanonen – Gedränge auf maroden Gleisen
Copyright: (c) Copyright Thomson Reuters 2022
Titelfoto: Symbolfoto
Die aktuelle Folge zum FUNDSCENE NFT, Web3 , Metaverse Talk