Lwiw, 09. Mrz (Reuters) – Victoria Zaburyna hatte ihre Mutter noch gedrängt, die von russischen Streitkräften belagerte Hafenstadt Mariupol im Südosten der Ukraine zu verlassen. Doch die 76-Jährige blieb an Ort und Stelle. Noch sei die Stadt ruhig, sagte Tamara Usenko ihrer Tochter. Dann rief sie noch einmal an, um zu berichten, dass sie sich in einem Flur versteckt habe, nachdem eine Bombe oder Granate die nahe gelegene Schule zerstört und ihren Wohnblock mit Trümmern übersät hatte. „Es ist jetzt ruhiger, also werde ich wahrscheinlich nach Hause zurückkehren“, sagte die Mutter. „Mach dir keine Sorgen.“ Seitdem hat Zaburyna nichts mehr von ihr gehört.
Hunderttausende Einwohner von Mariupol suchen seit einer Woche Schutz vor den Bombenangriffen, ohne Wasser und ohne Strom. Die Telefonverbindungen sind ausgefallen und die Stadt damit von der Außenwelt abgeschnitten. Das Rote Kreuz bezeichnet die Lage in der von russischen Truppen vollständig eingeschlossenen Hafenstadt als „apokalyptisch“. Tausende von Ukrainerinnen und Ukrainern suchen verzweifelt nach Informationen über ihre Angehörigen und Freunde, die im Krieg vertrieben oder möglicherweise getötet wurden.
So geht es auch Oleg Maksimchuk, dessen 63-jähriger älterer Bruder Viktor in einem Dorf östlich von Mariupol wohnt. Sie haben seit dem 26. Februar nicht mehr miteinander gesprochen. Damals hielt sich Viktor in einem Keller versteckt. „Die Bombardierung hat begonnen“, sagte Viktor während des letzten Telefonats mit Oleg. „Ich kann auch ein Militärflugzeug sehen.“ Oleg, der Hunderte von Kilometern entfernt wohnt, versucht am nächsten Tag, Viktor anzurufen – erreicht ihn aber nicht. „Ich hoffe, dass mein Bruder lebt“, sagt er.
Seitdem versucht Oleg es über eine Facebook-Seite, die für Ukrainer Kontakt mit Verwandten in Mariupol herstellen will. Er sei für jede Information dankbar, schreibt er dort und: „Ehre der Ukraine.“ Eine Telegram-Gruppe, die bei der Suche nach Vermissten aus Mariupol und anderen bombardierten Städten helfen will, hat alleine etwa 70.000 Nutzer.
Die schmerzhafte Trennung von ihren Liebsten zermürbt die Menschen. Iraida Dzyubenko sucht nach ihrer Schwiegertochter Olga Ponomarenko, die mit ihren zwei Kindern in einem Wohnblock am östlichen Stadtrand von Mariupol lebt. Dzyubenko, Hunderte von Kilometern von Mariupol entfernt, bricht mehrmals zusammen, als sie über ihre Verwandten spricht. „Bitte helfen Sie, sie zu finden“, sagt sie unter Tränen.
Olga wollte die Stadt verlassen, beschloss aber, ein oder zwei Tage zu warten, weil der Bahnhof überfüllt und ihr Sohn krank war. Vor acht oder neun Tagen, mitten in der Nacht, erhielt Dzyubenko eine letzte Nachricht von Olga. Als sie versuchte, diese zu öffnen, löschte sie die Nachricht versehentlich. „Ich wünschte, ich könnte sie wiederherstellen, aber ich kann es nicht.“
Olha Uha hat seit acht oder neun Tagen nichts mehr von ihrem 82-jährigen Onkel Anatoliy Mulika gehört. Er lebt allein in einer Wohnung im Osten von Mariupol. Uha – die in der Nähe von Riwne, am anderen Ende der Ukraine lebt – hatte ihren Onkel gedrängt, die Stadt zu verlassen. Aber er weigerte sich. „Er war optimistisch und wollte nichts von Flucht hören“, erinnert sich Uha an das letzte Telefonat.
Mulika sagte, er habe den Zweiten Weltkrieg und die Ereignisse von 2014 überlebt, als Russland die nahe gelegene Krim annektierte. „Und ich werde wieder überleben“, versicherte er seiner Nichte. „Ich werde niemals aufgeben.“ Uha ruft am nächsten Tag wieder an und kommt nicht durch. Jetzt ist es an ihr, positiv zu bleiben. „Ich will nicht an das Schlimmste denken“, sagt sie.
„Ich werde niemals aufgeben“ – Letzte Worte aus Mariupol
Copyright: (c) Copyright Thomson Reuters 2022
Titelfoto: Symbolfoto
Wichtige Entwicklungen zur Ukraine.