Berlin, 30. Nov – Arbeitskräfte aus Staaten außerhalb der Europäischen Union (EU) sollen leichter nach Deutschland kommen können. Entsprechende Eckpunkte hat die Bundesregierung am Mittwoch beschlossen. Dabei geht es nicht nur um Fachkräfte, sondern auch um Arbeitskräfte ohne anerkannte Berufsabschlüsse.
Den Anstoß für die Reform gibt der demografisch bedingte Schwund der arbeitsfähigen Menschen in Deutschland. Einmal Zugewanderte sollen aber auch bleiben. Einen Schritt in diese Richtung soll der Bundestag am Freitag mit dem „Chancenaufenthaltsrecht“ für Geduldete beschließen. Innenministerin Nancy Faeser (SPD) will zudem Einbürgerungen nach fünf statt acht Jahren ermöglichen. Es folgt ein Überblick:
DREI-SÄULEN-ECKPUNKTE
In den Eckpunkten heißt es, die Fachkräfte-Einwanderung solle auf drei Säulen beruhen. Diese orientieren sich an akademischen und beruflichen Abschlüssen, an der Berufserfahrung – und am Potenzial möglicher Arbeitskräfte.
– Fachkräftesäule: Voraussetzung für ihre Zuwanderung sind ein anerkannter Berufs- oder Hochschulabschluss und ein Arbeitsvertrag. Neu ist, dass diese Fachkräfte nicht nur in ihrem angestammten Beruf arbeiten dürfen: „Zukünftig wird eine anerkannte Qualifikation grundsätzlich zu jeder qualifizierten Beschäftigung in nicht-reglementierten Berufen berechtigen.“
Für die EU-weite Blaue Karte als Arbeitserlaubnis für Hochschulabsolventen oder beruflich Qualifizierte sollen die Mindestgehälter gesenkt werden. Es sollen auch mehr junge Leute aus Drittstaaten nach Deutschland kommen, um sich hier zu qualifizierten Arbeitskräften ausbilden zu lassen. Dafür werde die Vorrangprüfung bei der Aufnahme einer Ausbildung abgeschafft. Die Bundesagentur für Arbeit muss somit nicht mehr bescheinigen, dass kein inländischer Bewerber verdrängt wird.
– Erfahrungssäule: Diese soll gelten für qualifizierte Zuwanderer ohne vorherige formale Anerkennung eines Berufsabschlusses. Berufserfahrung soll somit noch stärker zur Einreise berechtigen. Voraussetzung: Eine mindestens zweijährige Berufserfahrung in dem Beruf, der ausgeübt werden soll, sowie ein Berufs- oder Hochschulabschluss, der im Herkunftsland staatlich anerkannt ist und dessen Erwerb mindestens zwei Jahre dauert. Der Abschluss müsse aber nicht in Deutschland anerkannt sein. Das bedeutet eine deutliche Vereinfachung.
– Potenzialsäule: Sie soll „Drittstaatsangehörigen mit gutem Potenzial einen Aufenthalt zur Suche eines Arbeitsplatzes ermöglichen“. Eintrittskarte soll die sogenannte Chancenkarte auf der Grundlage eines Punktesystems sein: Zu den Auswahlkriterien können Qualifikation, Sprachkenntnisse, Berufserfahrung, Deutschlandbezug und Alter gehören. Während der Arbeitsplatzsuche soll es die Möglichkeit einer zweiwöchigen Probebeschäftigung in Vollzeit geben. Darüber hinaus soll eine Nebenbeschäftigung von 20 Stunden in der Woche zulässig sein.
– Ungelernte Arbeitskräfte: Sie sollen bei akutem Arbeitskräftemangel einreisen dürfen. Sie sollen unabhängig von einer Qualifikation ins Land kommen können, „unter Berücksichtigung der dafür vorhandenen Kapazitäten“. Die BA könne für bestimmte Branchen einen „arbeitsmarktlichen Bedarf“ feststellen. Die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung solle bis zu sechs Monate innerhalb von sechs Monaten möglich sein. Voraussetzung sei eine Bezahlung nach Tarif.
Derzeit gibt es bereits eine bis Ende 2023 befristete Sonderregelung für Hilfskräfte aus den Westbalkan-Ländern. Sie soll entfristet werden. Eine Ausweitung auf weitere Staaten wird angestrebt. Sie ermöglicht bisher jährlich bis zu 25.000 Hilfskräften aus Albanien, Bosnien und Herzegowina, dem Kosovo, der Republik Nordmazedonien sowie aus Montenegro und aus Serbien bei einem konkreten Arbeitsplatzangebot außerhalb der Leiharbeit einen erleichterten Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt.
CHANCENAUFENTHALTSRECHT UND STAATSANGEHÖRIGKEITSRECHT
Seit langem wird in der Politik darum gerungen, in Deutschland geduldeten Ausländern die Perspektive auf einen sicheren Aufenthaltsstatus zu ermöglichen. Gut integrierte Geduldete, die zum Stichtag 31. Oktober 2022 fünf Jahre in Deutschland gelebt haben und nicht straffällig geworden sind, erhalten ein Aufenthaltsrecht für eineinhalb Jahre. Das verschafft ihnen Zeit, Nachweise für ein dauerhaftes Bleiberecht zu erbringen. Davon sollten ursprünglich etwa 137.000 Menschen profitieren. Die Zahl dürfte etwas höher sein, da der bisher geplante Stichtag Ende 2021 um zehn Monate verschoben wurde.
Beim Staatsangehörigkeitsrecht sorgte ein erster Entwurf von Faeser in diesen Tagen für Kritik bei der Union, aber auch beim Koalitionspartner FDP. Die Vorlage, die noch in einem frühen Stadium der Abstimmung ist, sieht Einbürgerungen nach fünf statt bisher acht Jahren sowie die Möglichkeit vor, die bisherige Staatsbürgerschaft beizubehalten. Das zielt auch darauf ab, ausländischen Arbeitskräften, die in Deutschland bleiben wollen, eine dauerhafte Teilhabe zu ermöglichen. Die FDP kritisiert vor allem die Reihenfolge: Noch bevor es beim Einwanderungsrecht einen Gesetzentwurf gebe, präsentiere das Innenministerium einen Entwurf zum Staatsangehörigkeitsrecht.
ARBEITSKRÄFTESCHWUND: Weil die geburtenstarken Jahrgänge der 1960er-Jahre mit den Jahren in Rente gehen, schrumpft das zur Verfügung stehende Arbeitskräfteangebot – um etwa sieben Millionen bis zum Jahr 2035, wie Experten beim Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) ausgerechnet haben. Nicht berücksichtigt ist dabei, dass in diesem Jahr etwa eine Million Erwachsene und Kinder vor dem Krieg in der Ukraine nach Deutschland geflüchtet sind. Sie verringern den demografischen Schwund des Arbeitskräfteangebots – in welchem Umfang, bleibt aber offen, da viele im Friedensfall zurückkehren dürften.
Nach IAB-Berechnungen müssen jedes Jahr unter dem Strich etwa 400.000 Menschen mehr nach Deutschland zuwandern als fortziehen, wenn das potenzielle Arbeitskräfteangebot bis 2035 in etwa konstant bleiben soll. Jährlich ziehen nach früheren Studien etwa 8,4 Prozent der in Deutschland lebenden Bevölkerung mit ausländischer Nationalität fort. Bei den ausländischen EU-Bürgern in Deutschland ist der Anteil noch größer. Langfristig halten die Experten eine Netto-Zuwanderung von jährlich etwa 100.000 Personen für realistisch. Bei diesem Szenario sinke das Erwerbspersonenpotenzial bis 2035 um knapp drei Millionen Menschen.
Hürden für Arbeitskräfte-Zuwanderung sollen sinken
Quelle: Reuters
Titelfoto: Symbolfoto
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