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Hintergründe: Vom Handwerk zur Industrie – Rüstungsbranche soll umdenken

Berlin/Frankfurt, 19. Jan – Die deutsche Rüstungsindustrie steht vor einer radikalen Strukturreform und einem Wachstumspfad – muss aber das dafür nötige Geld finden. Denn Bundeskanzler Olaf Scholz dringt darauf, dass die Produktion von Waffen und Munition in Deutschland angesichts der „Zeitenwende“ nach dem russischen Angriff auf die Ukraine deutlich ausgeweitet wird. „Wir müssen in der Lage sein, dass wir ständig die Unterstützung bekommen, die wir brauchen, und Produktionsnachschub existiert“, hatte er schon im November gemahnt. „Von einer wirklich ‚Industrie‘ kann angesichts der geringen Stückzahlen kaum die Rede sein“, heißt es in Regierungskreisen zudem. Doch dafür müssen beide Seiten umdenken, zumal sich Finanzierungsfragen stellen. 

Tatsächlich wirkt die Bundesregierung seit dem russischen Angriff am 24. Februar wie eine Getriebene. Zwar kündigte Scholz schon drei Tage später schnellentschlossen an, die Ausrüstung der Bundeswehr mit zusätzlichen 100 Milliarden Euro auf Vordermann zu bringen. Aber dann stellte man fest, dass die Firmen gar nicht die dafür nötigen Produktionskapazitäten haben. Die zunehmenden Lieferungen an die Ukraine haben das Problem noch vergrößert: Denn anders als in Friedenszeiten werden dort Waffensysteme im Krieg zerstört und Munition in großem Maße verbraucht. Alle westlichen Staaten geraten unter Druck, mehr zu liefern – was sie teilweise nicht können. 

Frappierendes Beispiel ist das Luftabwehrsystem Iris-T SLM der Firma Diehl. Es wird zwar für die Effektivität gefeiert und Scholz verwies mehrfach darauf, dass Anfragen aus aller Welt kämen. Aber mit Schrecken stellte man fest, dass Diehl nicht einmal eine Handvoll der Systeme pro Jahr herstellt. „Das muss sich ändern“, heißt es. Der Chef der Firma Hensoldt, an der der Staat beteiligt ist, kündigte auch eine Änderung an: Man werde nun Systeme auch ohne vorherigen Auftrag produzieren, sagte Thomas Müller der „Financial Times“. Ab April werde man etwa ein Radarsystem des Typs TRML-4D pro Monat herstellen.

INSIDER: NIEMAND WILL ÜBERKAPAZITÄTEN AUFBAUEN 

In mehreren Runden gab es vertrauliche Gespräche der Regierung mit den Rüstungsfirmen, die aber ihrerseits ihre Probleme schilderten. Und die liegen – neben Standardproblemen wie Rohstoffen und Fachkräften – im politischen Bereich: Über Jahrzehnte war Deutschland nur noch als zurückhaltender Käufer aufgetreten. Zugleich wurden die Rüstungsexportrichtlinien schrittweise verschärft. Die Ampel hatte eine weitere Verschärfung angekündigt. Die Firmen rechneten deshalb in der Produktion nur noch mit geringen Stückzahlen. Dazu komme die Unsicherheit, ob die Regierung denn nach einem Ende des Ukraine-Kriegs bei der derzeitigen Bestellbereitschaft bleibe, heißt es in Unternehmenskreisen. Niemand will Überkapazitäten aufbauen. 

„Es ist (aber) wichtig, wenn wir uns an die Zukunft unseres Land machen, dass wir dafür eine starke Bundeswehr und eine leistungsfähige Rüstungsindustrie brauchen“, mahnte Scholz am Montag erneut bei einem Besuch bei der Rüstungsfirma Hensoldt. Zumindest will er den Firmen jetzt eine Sorge nehmen: „Das bedeutet natürlich auch, dass wir langfristige Kooperationen mit der Verteidigungsindustrie zustande bringen müssen“, betonte er.

Ein weiteres Problem ist aber die kaum vorangekommene Konsolidierung der europäischen Rüstungsindustrie, weil EU-Regierungen eifersüchtig über ihre Firmen wachen. „Es wäre gut, wenn wir auch im Bereich der Rüstungsindustrie in Richtung Binnenmarkt gingen. Auch hier sollten die EU-Wettbewerbsregeln gelten“, sagte der Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, Christoph Heusgen, zu Reuters. „Und bei den Rüstungsexporten müssen wir in Deutschland raus aus dem Denken ‚Am deutschen Wesen soll die Welt genesen'“, fügte er in Anspielung auf die restriktiveren deutschen Regeln hinzu. „Wir brauchen auch hier gemeinsame EU-Regeln für alle“ – wobei man aber durchaus auf die Art der Regierungsführung bei Käuferländern achten solle. 

FINANZIERUNGSPROBLEM – NOTWENDIG ABER NICHT NACHHALTIG

Eine weitere Sorge für Rüstungshersteller bleibt die Finanzierung. Denn der Ukraine-Krieg führte noch keineswegs zu einem Umdenken bei deutschen Investoren. Dank der attraktiven Renditen schließen nicht alle Privatanleger aus, in Unternehmen aus der Rüstungsindustrie zu investieren. Doch institutionelle Anleger wollen keine Reputationsschäden mit solchen Investitionen in Kauf nehmen und verzichten lieber komplett, berichten Manager von deutschen Fondsgesellschaften. Hinzu kommt die steigende Nachfrage nach nachhaltigen Anlageprodukten (ESG), die Rüstungsunternehmen größtenteils ausschließen. Denn die Kernanforderung bei nachhaltigen Fonds sei, keinen wesentlichen Schaden anzurichten.

„Auch wenn einige Konzerne einen hohen Umsatzanteil in Geschäftszweigen erwirtschaften, die nicht der Rüstung zuzurechnen sind, kommen diese Unternehmen nicht für unsere nachhaltigen Fonds infrage“, sagt ein Sprecher der Fondsgesellschaft Union Investment. „Waffen können notwendig, aber nicht nachhaltig sein.“ Als konventioneller – also nicht nachhaltiger – Investor kann sonst Union Investment auch in Rüstungsunternehmen investieren, solange die Hersteller nicht Atomwaffen, biologische oder chemische Waffen herstellen. 

Bei Deka Investment gibt es eine Richtlinie für alle Bestände: „Grundsätzlich sind wir nicht in Hersteller kontroverser Waffen investiert“, sagt Ingo Speich, Leiter Nachhaltigkeit und Corporate Governance bei Deka Investment. Der Spielraum der Hersteller wird durch die aktuell sehr große Nachfrage nach nachhaltigen Finanzprodukten eingeschränkt. Erwirtschaftet ein Unternehmen mehr als fünf Prozent seines Umsatzes mit Rüstung, so ist es bei nachhaltigen Portfolien ausgeschlossen, sagt Speich. „Mit dieser Regelung filtert man im Prinzip alle großen Rüstungskonzerne aus, weil die Branche am Kapitalmarkt sehr konsolidiert ist.“

Die Lobby der Rüstungsindustrie hatte nach dem Ausbruch des Ukraine-Krieges gehofft, dass sie trotz einer EU-Taxonomie, die Waffenhersteller als nicht nachhaltig einstuft, besseren Zugang zu Finanzmitteln bekommt. Um über das Thema Rüstung auf EU-Ebene diskutieren zu können, seien aber zuerst die Eckpfeiler einer sozialen Taxonomie benötigt, sagt Speich. „Die soziale Taxonomie wurde jedoch auf europäischer Ebene auf Eis gelegt.“

Hintergründe: Vom Handwerk zur Industrie – Rüstungsbranche soll umdenken

Quelle: Reuters

Symbolfoto: Bild von Carlos Pires Corrente auf Pixabay

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