Berlin, 05. Dez – Knapp ein Jahr ist die Ampel-Regierung jetzt im Amt. SPD, Grüne und FDP wollten für Fortschritt sorgen und einen neuen Politikstil in Deutschland. Doch der russische Angriff auf die Ukraine Ende Februar hat alles verändert – seitdem ist die Regierung getrieben von der Energiekrise und deren Folgen. Zwar hat die Ampel Wahlversprechen umgesetzt wie die deutliche Erhöhung des Mindestlohns und die Einführung eines Bürgergeldes als Hartz-IV-Nachfolger. Seit Kriegsausbruch wurden zudem zahlreiche Entlastungspakete für Unternehmen und Haushalte geschnürt. Für die Modernisierung der Bundeswehr und zur Finanzierung der Preisbremsen auf Strom und Gas wurden Sondertöpfe geschaffen, zudem die Gas-Importeure stabilisiert, die Speicher gefüllt und neue Infrastruktur für Flüssiggas geschaffen. Doch viele Projekte wurden auch auf die lange Bank geschoben, andere durch die Folgen des Krieges unrealistisch. Ein Überblick – ohne Anspruch auf Vollständigkeit:
WOHNUNGSBAU – „WUNSCHDENKEN“ STATT FORTSCHRITT
Das Ziel, jedes Jahr 400.000 Wohnungen zu schaffen und davon 100.000 Sozialwohnungen, liegt in weiter Ferne und wird aller Wahrscheinlichkeit deutlich verfehlt. Es war ein zentrales Wahlkampfversprechen von Olaf Scholz (SPD), der am 8. Dezember 2021 als Kanzler vereidigt wurde. Im vergangenen Jahr wurden knapp 294.000 Wohnungen gebaut, 2022 dürften es nochmal weniger sein. Die zuständige Bauministerin Klara Geywitz (SPD) hat ein „Bündnis bezahlbarer Wohnraum“ ins Leben gerufen. Die höchste Inflation seit Jahrzehnten, steigende Zinsen und Lieferkettenprobleme bremsen die Baubranche aber spürbar aus. „Alle Vorzeichen deuten darauf hin, dass es im Jahr 2023 einen dramatischen Einbruch geben wird“, heißt es in einem Appell der 17 Spitzenverbände und Kammern der Bau-, Planungs- und Immobilienwirtschaft. Das Ampel-Ziel drohe zum Wunschdenken zu werden. „Die bisherigen Maßnahmen der Bundesregierung, dagegen zu steuern, sind bislang unzureichend, zumal der Bedarf allein angesichts der Millionen von Menschen, die der Krieg in der Ukraine in die Flucht treibt, in den nächsten Monaten weiter anwachsen wird“, warnen die Verbände.
KLIMASCHUTZ – WIE LANGE IST „SOFORT“?
Der Klimaschutz und der Umbau der deutschen Wirtschaft sollten ebenfalls zentrale Themen sein. Daher stand ein Klimaschutz-Sofortprogramm weit vorne im Koalitionsvertrag. Mit dem Vorhaben sollten Versäumnisse der Vorgängerregierung aufgeholt und Deutschland wieder auf Kurs gebracht werden, bis 2030 mindestens 65 Prozent weniger CO2 auszustoßen als 1990. Doch das Sofortprogramm lässt auch ein Jahr nach Amtsantritt auf sich warten. Klimaschutzminister Robert Habeck (Grüne) will dafür den Krieg in der Ukraine nicht als Ausrede gelten lassen. Kurz vor der Weltklimakonferenz im November einigte sich die Ampel zumindest auf Eckpunkte für ein Rumpfprogramm – doch auch bei diesem fehlt noch die endgültige Verständigung. Grund: Der Verkehrssektor hängt seinen Zielen weit hinterher. Die von Verkehrsminister Volker Wissing (FDP) vorgeschlagenen Instrumente hatte ein unabhängiger Expertenrat der Regierung als „schon im Ansatz ohne hinreichenden Anspruch“ abgeschmettert.
Auch deswegen pocht die FDP auf eine Verknüpfung des Programms mit einer Reform des Klimaschutzgesetzes. Diese ist auch im Koalitionsvertrag angelegt. Angedeutet wird dort, dass einzelne Sektoren und die zuständigen Ministerien keine jahresgenauen Einsparvorgaben mehr bekommen und Verfehlungen mit Übererfüllung anderer Sektoren verrechnet werden könnten. Bei Grünen und SPD hält man das für einen gefährlichen Irrweg. 2023 soll nun eine Lösung gefunden werden – möglichst im Frühjahr.
DIGITALISIERUNG – KEINE KURZFRISTIGEN AMBITIONEN
Auch bei der Digitalisierung und dem Netzausbau kam die Regierung noch nicht entscheidend voran. Wissing als auch hier zuständiger Minister hat beim Breitbandausbau Ziele bis 2025 vorgegeben und will sich an deren Erreichen und nicht kurzfristigen Marken messen lassen. Wie beim Wohnungsbau hängt die Bilanz der Regierung letztlich vom Zusammenspiel vieler Akteure wie den Ländern, Kommunen und der Telekommunikationsindustrie ab. Als entscheidend gilt aber auch hier, wie sehr die geplante Beschleunigung von Planungs- und Baugenehmigungen vorankommt und ob genug Personal für Baumaßnahmen zur Verfügung steht.
EINWANDERUNG – ZWEITER SCHRITT VOR DEM ERSTEN?
„Wir wollen einen Neuanfang in der Migrations- und Integrationspolitik gestalten, der einem modernen Einwanderungsland gerecht wird.“ So steht es im Koalitionsvertrag der Ampel. Doch bislang ist dabei noch nicht viel passiert, im Gegenteil bahnt sich ein Streit vor allem zwischen FDP und SPD in der konkreten Umsetzung an. Für die Liberalen ist die richtige Reihenfolge bei der Schaffung einer neuen Einwanderungspolitik wichtig: Rückführungen, gezielter Zuzug von Fachkräften und dann die Frage der Staatsbürgerschaft. Innenministerin Nancy Faeser (SPD) sorgte zuletzt für Irritationen mit der Vorlage eines Gesetzesentwurfs zum Staatsbürgerschaftsrecht, während es für das geplante Fachkräftezuwanderungsgesetz derzeit nur vom Kabinett beschlossene Eckpunkte gibt. Für die FDP ist klar, dass hier nicht der zweite Schritt vor dem ersten gemacht werden könne – Ausgang offen. Immerhin beschloss der Bundestag zuletzt das sogenannte Chancen-Aufenthaltsgesetz, das es bislang nur geduldeten Flüchtlingen ermöglicht, für die Dauer von 18 Monaten ein Aufenthaltsrecht zu bekommen, um sich in dieser Zeit um ein reguläres Bleiberecht zu bemühen.
„SUPERABSCHREIBUNGEN“ – PASSTEN ZEITLICH NIE SUPER
In der Finanzpolitik wurden die sogenannten Superabschreibungen mehrfach verschoben. Sie sollten eigentlich schon 2022 kommen. Doch Finanzminister Christian Lindner (FDP) zögerte, weil die Erholung nach der Corona-Pandemie zum damaligen Zeitpunkt – noch vor dem russischen Angriff auf die Ukraine – auch so kräftig genug aussah und Lieferkettenprobleme die erhofften Investitionen hätten behindern können. In der Energiekrise schien dann auch 2023 nicht der geeignete Zeitpunkt. Nun signalisierte FDP-Chef Lindner zuletzt, dass er im Haushalt für 2024 steuerliche Impulse setzen wolle – womöglich mit den „Superabschreibungen“. Sie sollen private Investitionen in den Bereichen Klimaschutz und Digitalisierung forcieren. Als idealer Zeitpunkt könnte die überstandene Energiekrise dienen, wenn Unternehmen aber noch zögerlich sind. Dann könnten zusätzliche, über das normale Maß hinausgehende Abschreibungsbedingungen helfen, wieder mehr Geld in die Hand zu nehmen. Wirtschaftsminister Habeck will dagegen lieber früher als später aktiv werden. Er fordert, die „Superabschreibungen“ jetzt schon einzusetzen.
Ein Jahr Ampel – Was die Regierung auf die lange Bank geschoben hat
Quelle: Reuters
Titelfoto: Symbolfoto
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