Berlin, 23. Nov – Die Ampel-Koalition hat nach Einschätzung des Münchner Ifo-Instituts in ihrem ersten Jahr im Amt zwar Erfolge im Kampf gegen die Energiekrise zu verzeichnen, aber auch Versäumnisse. „Die Ampel hat klare Umsetzungsschwächen gezeigt“, sagte Ifo-Präsident Clemens Fuest in einem am Mittwoch veröffentlichten Interview der Nachrichtenagentur Reuters. Grundsätzlich würden zu viele Projekte übereilig angekündigt, ohne deren Folgen zu prüfen.
Als Beispiel nannte der Top-Ökonom die Gasumlage, die eigentlich strauchelnde Gas-Importeure wie Uniper stabilisieren sollte, nach starker Kritik aber zurückgezogen wurde. Außerdem würden in der Krise Riesenbeträge auf den Tisch gelegt, ohne wirklich zu wissen, wofür das Geld im neuen 200-Milliarden-Euro-Sondertopf eingesetzt werden solle. „Das ist nicht der richtige Weg.“
Insgesamt sei zu spät auf die zwischenzeitlich drohende Gasmangellage reagiert worden. „Im März war klar: Wir müssen was tun beim Gas, das wird teuer.“ Sechs Monate sei dann aber zu wenig passiert. „In der Politik ist die Umsetzung ganz wichtig. Damit hat man sich zu spät beschäftigt.“ Schon im März hätte es Gespräche mit den Versorgern geben müssen. Die Regierung plant nun ab Anfang 2023 Preisbremsen auf Strom und Gas, verweist aber darauf, dass die Versorger Zeit bräuchten für eine reibungslose Umsetzung.
Fuest ergänzte, die schlimmsten Szenarien seien immerhin abgewendet worden. So seien die Gasspeicher gefüllt und neue Terminals für Flüssiggas stünden bereit. Das seien auch Erfolge der Ampel-Koalition aus SPD, Grünen und FDP, die seit Anfang Dezember 2021 regiert. „Aber natürlich spielt die Temperatur eine Riesenrolle.“ Der warme Oktober habe die Lage verbessert.
Bei fehlendem Gas, was zum Heizen und für viele Industrieprozesse benötigt wird, hätte es zu einem nie dagewesenen Wirtschaftseinbruch von acht Prozent kommen können – deutlich mehr als in der globalen Finanzkrise oder in der Corona-Pandemie. An diesem Risiko habe die Ampel gearbeitet. Die Wahrscheinlichkeit, dass es im Spätwinter zu Rationierungen bei Gas kommen könne, sei dramatisch gesunken, so Fuest. „Wir müssen jetzt schon viel Pech haben und einen sehr, sehr kalten Winter, damit eine solche Gasmangellage überhaupt noch eintreten kann.“
AKW-TRUMPF TROTZ UNSICHERHEIT AUS DER HAND GEGEBEN
Richtig sei es beispielsweise gewesen, die drei noch am Netz befindlichen Atomkraftwerke über den Winter weiter laufen zu lassen. Die Option, diese Meiler aber noch länger zu nutzen, sei allerdings leichtfertig aus der Hand gegeben worden. „Es ist schon schwer zu rechtfertigen jetzt, dass man bei so großer Unsicherheit darauf verzichtet, die Dinger ein paar Jahre länger laufen zu lassen.“
Fuest sagte, die neuen Schulden in der Krise seien zu rechtfertigen. Allerdings sollte die Regierung genau wissen, wofür sie die Mittel einsetzen wolle und einen Fokus auf Investitionen legen. Bei der Konsolidierung des regulären Haushaltes sei zudem bisher wenig passiert. Hier könnte das Ausgabenwachstum stärker begrenzt werden. Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) hat nach dem russischen Angriff auf die Ukraine die Sonderausgaben zur Modernisierung der Bundeswehr und den 200-Milliarden-Abwehrschirm gegen die hohen Energiepreise in sogenannte Sondervermögen ausgelagert. Fuest nannte Großbritannien als warnendes Beispiel: „In Großbritannien ist die Verlagerung von Lasten in die Zukunft beendet.
Die Finanzmärkte machen nicht mehr mit.“ Deswegen gebe es dort nun bittere Verteilungskämpfe. In diese Lage dürfe Deutschland nicht kommen. „Ich denke, wir sind noch ein Stück weg davon“, so der Ökonom mit Verweis auf die niedrigere Schuldenquote und Deutschlands Glaubwürdigkeit am Kapitalmarkt. „Das sollte Deutschland nicht verspielen.“
Ein Jahr Ampel-Koalition – Ifo-Chef diagnostiziert Umsetzungsschwäche
Quelle: Reuters
Titelfoto: Bild von Pexels auf Pixabay
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