Berlin, 25. Okt (Reuters) – Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine am 24. Februar hat in Deutschland ein hektischer Wettlauf um mehr Rohstoff-Unabhängigkeit eingesetzt. Denn mit Schrecken entdecken deutsche Firmen und die Politik, wie sehr die Industrie nicht nur bei Energieträgern wie Öl oder Gas von wenigen, oft autokratischen Ländern abhängig ist – gerade bei High-Tech-Produkten für die Energiewende wie E-Autos, Solar- und Windkraftanlagen. „Etwa 80 Prozent der Bergbauproduktion findet in nur 16 Ländern statt“, warnt Sven-Uwe Schulz, stellvertretender Leiter der Deutschen Rohstoffagentur (Dera), gegenüber Reuters. „Und bei der Weiterverarbeitung ist es noch gravierender: Knapp 50 Prozent der weltweiten Raffinade-Produktion kommen aus China.“ Deshalb steuern Firmen und Politik nun radikal um – sogar Autobauer entdecken plötzlich den Charme, sich mit Bergwerken zu beschäftigen.
Haupttriebkraft ist vor allem die Angst vor Abhängigkeit von autoritären Staaten wie Russland und China. „Weltweit sehen wir eine klare Expansion chinesischer Minenbetreiber. China treibt die Sicherung der Rohstoffe für seine Interessen sehr strategisch und in großen Umfang voran“, sagt die zuständige Staatssekretärin, Franziska Brantner, zu Reuters. „Insbesondere in Argentinien haben sich chinesische Firmen die Mehrzahl der Konzessionen für Lithium-Minen in dem Land gesichert“, nennt Roland Harings, Chef des deutschen Kupferproduzenten Aurubis, ein Beispiel. BDI-Präsident Siegfried Russwurm spricht von einem „echten Kraftakt“, um die Rohstoffabhängigkeit von China zu reduzieren.
AUTOKONZERNE ALS VORREITER
Im Eiltempo versuchen deutsche Politiker und Unternehmen, sichere Lieferanten zu finden. Im August reiste Kanzler Olaf Scholz nach Kanada und lobte: „Kanada hat alles, was Russland auch hat.“ Autokonzerne wie VW und Mercedes-BenzMBGn.DE, die sich lange auf dem freien Markt bedienten, schlossen am Rande des Besuchs Absichtserklärungen zur Sicherung des Bezugs etwa des Leichtmetalls Lithium, das für die Batterie-Herstellung benötigt wird. Am 20. Oktober besiegelte Mercedes-Benz dann den Einkauf von Lithium beim deutsch-kanadischen Startup Rock Tech Lithium.
„Lange herrschte die Philosophie vor: Der Markt regelt alles“, stellt Schulz von der Rohstoff-Agentur fest. „Die Firmen konzentrierten sich auf ihr Kerngeschäft. Das Vertrauen in globale Lieferketten und Just-in-time-Produktion war sehr groß.“ Bergbau habe wegen seiner Umweltprobleme zudem ein schlechtes Image, dem die Firmen aus dem Weg gehen wollten. Doch diese Arbeitsteilung funktioniert nicht mehr.
Denn laut Staatssekretärin Brantner schrumpft der freie Markt für Metalle immer mehr: „Wir sehen zum einen eine zunehmende Konzentration der Firmen im Rohstoffsektor und der weiterverarbeitenden Industrie.“ Zum anderen werden viele Rohstoffe über sogenannte Offtake-Verträge vergeben, bei denen sich Kunden bei Bergwerken frühzeitig große Teile der Produktion sichern. Analysten warnen, dass etwa bei Kobalt, Iridium und bestimmten Seltenen Erden die Produktion deshalb gar nicht mehr auf dem freien Markt landet. China kauft in großem Maßstab ein, um Rohstoffe dann in der Volksrepublik zu verarbeiten.
STRATEGISCHE PLANUNG STATT FREIER MARKT
Also spielen deutsche Unternehmen und Regierung das Spiel nun mit, sich Ressourcen auf anderen Wegen zu sichern – zumal laut der Grünen-Politikerin Brantner auch Japan und Südkorea längst eine aktive Rohstoffpolitik betreiben und die USA nachlegen. Sie plädiert für ein Vorgehen im EU-Rahmen und die Bildung gesamteuropäischer Konsortien. Die EU-Kommission hat bereits einen Rohstoff-Vorstoß angekündigt. Und das Wirtschaftsministerium will die zuletzt 2020 geänderte Rohstoffstrategie neu aufstellen.
Einfach ist diese Zukunftssicherung aber nicht. Denn in Deutschland sind Rohstoffkonzerne bis auf wenige Ausnahmen wie Aurubis weitgehend verschwunden. Deshalb baut etwa VW nun eilig eine eigene Abteilung für die Sicherung von Rohstoffen auf. Kleinere Unternehmen werden andere Wege finden müssen. „Firmen müssen nicht plötzlich Rohstoff-Unternehmen werden“, beruhigt Brantner. „Sie können sich Offtake-Abkommen oder Anteile an Bergwerken sichern, in die Weiterverarbeitung einsteigen oder investieren oder auch beim Einkauf diversifizieren.“
„Wir raten den Unternehmen, die sich in Bergbauprojekten engagieren möchten, zu einer Beteiligung zu einem möglichst frühen Projektzeitpunkt“, sagt Dera-Vize Schulz. Dann bestünden gute Chancen mitzubestimmen, wohin die Rohstoffe am Ende gehen. Eine andere Möglichkeit ist das sogenannte „Junior-Mining“, bei dem Risikokapital in eine sehr frühere Phase der Exploration möglicher Vorkommen gesteckt wird – in der Hoffnung, dass sich zumindest einige der Projekte als „Goldgrube“ erweisen.
Ein anderer Weg ist Zusammenarbeit mit Verarbeitungsbetrieben: Mercedes-Benz etwa bestellt bei Rock Tech nun Lithiumhydroxid, das im brandenburgischen Gruben hergestellt werden soll.
„ENTSCHEIDUNGEN DER POLITIK DAUERN ZU LANGE“
Die Politik sei nicht unschuldig daran, dass deutsche Firmen beim Rennen um Bergwerke im Ausland oft das Nachsehen haben, beklagt Aurubis-Chef Harings. Es dauere einfach zu lang, bis etwa über Bundesgarantien zur Absicherung gegen wirtschaftliche und politische Risiken entschieden werde. Harings plädiert dafür, den Entscheidungsprozess umzudrehen: Künftig sollten Genehmigungen unter Bedingungen ausgesprochen werden, die von den Firmen dann später erfüllt werden müssen.
„Ansonsten verlieren wir das Rennen um interessante Minen“, sagt er zu Reuters. Zudem tritt der Aurubis-Chef dafür ein, dass unter dem Dach der staatlichen KfW-Bank nicht nur Export- oder Investitionsgarantien für Projekte ausgesprochen, sondern zugleich Kredite für die Vorhaben vergeben werden sollten. Um hier zu helfen, planen Deutschland und Frankreich einen gemeinsamen Rohstoff-Fonds, der Beteiligungen an Rohstoff-Gewinnung und -Weiterverarbeitung erleichtern soll.
Es gibt aber auch ein Problem bei den Konzernen, die zumindest beim Rohstoff-Einkauf nicht langfristig dachten: 2010 waren sie etwa geschockt, als China plötzlich vorübergehend den Export Seltener Erden drosselte. Damals wandte sich die Industrie hilfesuchend an die Politik, die unter Kanzlerin Angela Merkel dann Rohstoff-Partnerschaften mit Ländern wie der Mongolei oder Chile aus dem Boden stampfte. Aber als die Weltmarktpreise wieder absackten, scheuten die deutsche Firmen erneut strategische Absprachen mit der Bundesregierung. Jetzt ist angesichts der Spannungen mit China wieder Alarmstimmung angesagt. „Aktuell werden wir überrannt mit Nachfragen der Unternehmen, was man tun kann“, sagt Schulz.
Bundeskanzler Olaf Scholz will nun die Rohstoff-Partnerschaften wieder beleben und empfing deshalb etwa den mongolischen Ministerpräsidenten Luwsannamsrain Ojuun Erdene im Kanzleramt. Die Bemühung um demokratische Partner wie Kanada, Australien, Chile oder eben die Mongolei nennt Dera-Vize Schulz „friend-shoring“ – ein neue Trend, vor allem die Zusammenarbeit mit Ländern zu suchen, mit denen man gleiche Werte teilt.
Abhilfe sollen aber auch andere Aktivitäten bringen. Das Wirtschaftsministerium will das Recycling vorantreiben, weil in vielen entsorgten Technikgeräten wertvolle Metalle stecken. „Es gibt zudem auch in Deutschland Bemühungen zur Nutzung heimischer Ressourcen, etwa im Erzgebirge mit Vorkommen für Zinn und Wolfram, in der Lausitz mit Kupferschiefer oder Lithium-Projekte“, sagt Schulz. Das Problem: Strategische Abhängigkeiten hin oder her – Umweltbedenken spielen auch nach dem russischen Angriff eine überragende Rolle, wie die Ablehnung der Nutzung von Fracking-Gas in Niedersachsen gerade wieder zeigt.
China-Angst zwingt Deutschland zur aktiven Rohstoff-Suche
Quelle: Reuters Titelfoto: Symbolfoto
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