Hongkong, 30. Aug – Im vergangenen Dezember wurde es Zhang Meng zuviel. Die 20-jährige brach zusammen und fand sich weinend auf der Treppe ihres Studentenwohnheims wieder. Noch im selben Monat wurden bei ihr eine schwere Depression und Angstzustände diagnostiziert. Auslöser waren die harten, wiederholten Corona-Lockdowns, mit denen China die Ausbreitung der Pandemie rigoros bekämpft. Sie führten dazu, dass Zhang meist in ihrem Zimmer eingesperrt war und sich nicht mit Freunden treffen konnte. Es gab auch strenge Beschränkungen, wann sie die Mensa besuchen oder duschen durfte. „Ich fühlte mich, als würde mein Wesen zusammenbrechen“, sagt Zhang.
Yao, der ebenfalls 20 Jahre alt ist und darum gebeten hat, seinen Vornamen nicht zu nennen, erlitt seinen ersten Zusammenbruch in der High School. Dort war er Internatsschüler und konnte nicht verstehen, warum die Lockdowns so streng waren. Eines Tages habe er in der Schultoilette Zuflucht gesucht und so heftig geschluchzt, „dass es sich anfühlte, als ob mein Inneres weinen würde“. Während seines Studiums in Peking unternahm Yao Anfang 2021 einen Selbstmordversuch. Die Depression ließ ihn nicht los. Er war auch unglücklich, weil er aus Angst, seinen Vater zu verärgern, nicht die Kurse besucht hatte, die er eigentlich belegen wollte.
Mit seiner erbarmungslosen Null-Covid-Politik wendet China die härtesten Corona-Maßnahmen weltweit an. Jeder Ausbruch wird sofort mit drastischen Eingriffen in das Leben der Menschen und strengen Kontrollen unterdrückt. Die Regierung argumentiert, dass diese Strategie Leben rettet und verweist auf die vergleichsweise niedrige offizielle Todesrate in dem Land. Doch die Auswirkungen auf die psychische Gesundheit alarmieren Mediziner: „Chinas Lockdowns fordern einen enormen menschlichen Preis und der Schatten der psychischen Erkrankungen wird Chinas Kultur und Wirtschaft über Jahre hinaus negativ beeinflussen“, heißt es in einem Artikel der renommierten medizinischen Fachzeitschrift Lancet vom Juni.
KINDER UNTER DRUCK
Experten sorgen sich vor allem um die psychische Gesundheit von Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die anfälliger sind und mit weitaus größerem Bildungsstress und wirtschaftlichem Druck konfrontiert sind als frühere Generationen. Die Zahl der potenziell betroffenen jungen Menschen ist riesig. Das chinesische Bildungsministerium schätzt, dass 2020 rund 220 Millionen chinesische Kinder und Jugendliche aufgrund von Corona-Beschränkungen über längere Zeiträume hinweg eingesperrt waren. Zu aktuellen Zahlen und dem Thema als solches reagierte das Ministerium nicht auf Reuters-Anfrage.
Die Beschränkungen haben viele junge Menschen in teils extreme Situationen gebracht. Während des zweimonatigen Lockdowns in Shanghai in diesem Jahr wurden zum Beispiel einige 15- bis 18-Jährige allein in Hotels isoliert. „Sie mussten für sich selbst kochen und hatten niemanden, mit dem sie reden konnten. Das war wirklich sehr schwer für sie“, sagt Frank Feng, stellvertretender Direktor der internationalen Schule Lucton in Shanghai. Für viele Jugendliche fallen die Lockdowns zudem in wichtige Prüfungsjahre. Die Sorge, ein entscheidendes Examen zu verpassen, weil man sich angesteckt hat oder – was viel häufiger vorkommt – weil man als enger Kontakt gilt, führt dazu, dass sich viele Familien vor den Prüfungen monatelang isolieren.
Laut einer Umfrage im April 2020 unter 39.751 Schülern, die im Januar in der US-Fachzeitschrift Current Psychology veröffentlicht wurde, hatten rund 20 Prozent der chinesischen Schüler der Sekundarstufen 1 und 2 Selbstmordgedanken. In den ersten sieben Monaten dieses Jahres hat sich die Zahl der Suchanfragen nach „psychologischer Beratung“ auf der chinesischen Suchmaschine Baidu im Vergleich zum Vorjahreszeitraum mehr als verdreifacht, und zwar quer durch alle Altersgruppen.
Verschärft wird die Lage durch die schlechten Berufsaussichten für junge Menschen. Während die Gesamtarbeitslosenquote bei 5,4 Prozent liegt, ist die Quote für Jugendliche in den Städten auf 19,9 Prozent gestiegen und damit auf den höchsten Stand seit Beginn der Aufzeichnungen. Denn die Unternehmen stellen aufgrund der Pandemie und der behördlichen Auflagen immer weniger Mitarbeiter ein.
PFLICHTKURSE FÜR PSYCHISCHE GESUNDHEIT
Aufgrund der chinesischen Ein-Kind-Politik, die bis 2015 andauerte, sind die meisten Studenten Einzelkinder und sich bewusst, dass sie in Zukunft zum Unterhalt ihrer Eltern beitragen müssen. Laut einer Umfrage der Fudan-Universität unter rund 4500 jungen Menschen in diesem Jahr äußerten sich etwa 70 Prozent in unterschiedlichem Maße besorgt. Das Bildungsministerium hat zwar eine Reihe von Maßnahmen ergriffen, um die psychische Gesundheit von Schülern während der Pandemie zu verbessern – etwa mit der Einführung von Pflichtkursen für psychische Gesundheit an den Hochschulen und der Aufstockung der Zahl der Schulberater, Therapeuten und Psychiater im Land.
Doch dieses Thema hat in China erst in den vergangenen 20 Jahren an Aufmerksamkeit gewonnen, und das Ministerium bemüht sich erst seit kurzem, Berater in den Schulen einzusetzen. So hatten die meisten Schulen im vergangenen Jahr noch keinen Berater. In den im Juni 2021 veröffentlichten Leitlinien wird landesweit ein Verhältnis von mindestens einem Berater pro 4000 Schülerinnen und Schüler gefordert. Lu Lin, Präsident des Sechsten Krankenhauses der Universität Peking, fürchtet, „dass der Tribut, den Covid für die psychische Gesundheit der Menschen fordert, über zwei Jahrzehnte anhalten könnte“. Daten von Anfang 2020 zeigten, dass ein Drittel der Menschen, die zu Hause isoliert lebten, an Depressionen, Angstzuständen und Schlaflosigkeit litten.
Lu schätzt, dass sich die meisten von ihnen wieder erholen werden, aber zehn Prozent nicht in der Lage seien, wieder vollständig zur Normalität zurückzukehren. Er habe Patienten im Teenageralter, die eine Spielsucht entwickelten, Schlafprobleme hätten, insgesamt niedergeschlagen seien und nur ungern ins Freie gingen. Bei Studentin Zhang haben die Lockdowns ihre Weltanschauung völlig erschüttert. Einst war sie mit ihren Plänen, chinesische Sprache und Literatur zu studieren, zufrieden.
Doch die Enttäuschung darüber, wie die Pandemie in China gehandhabt wurden, hat ihr Interesse an einem Auslandsstudium geweckt. „Ich war ziemlich patriotisch, als ich mein Abitur gemacht habe… dieses Gefühl schwindet langsam. Es ist nicht so, dass ich der Regierung nicht mehr traue, es ist eher das Gefühl, dass der Geruch von Masken und Desinfektionsmitteln tief in meine Knochen eingedrungen ist.“
Angst und Depression – Chinas Covid-Kurs trifft Jugendliche schwer
Quelle: Reuters
Titelfoto: Symbolfoto
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