Berlin, 22. Feb – Wenn deutsche Politiker nach Indien reisen, schwingen enorme Hoffnungen mit. Schon Kanzlerin Angela Merkel hatte die größte Demokratie der Welt bei ihren Besuchen als willkommene Alternative zu den engen wirtschaftlichen Beziehungen zu China hofiert. Wenn Kanzler Olaf Scholz am Freitag mit einer Wirtschaftsdelegation nach Neu-Delhi aufbricht, ist durch den russischen Angriff auf die Ukraine der Druck größer geworden, eine enge Zusammenarbeit zu beschließen. Scholz hatte Ministerpräsident Narendra Modi im vergangenen Mai in Berlin und dann auf dem G7-Gipfel in Elmau begrüßt und möchte, dass beide Länder enger zusammenrücken. Aber aus der Wirtschaft kommen kritische Töne.
Denn Indien wird als Scheinriese angesehen, auch wenn Modi auf Wachstumsraten von mehr als sechs Prozent verweist. „Das Land wird immer als Hoffnungsträger angesehen, aber die protektionistische, nationalistische Politik von Modi verhindert dann doch wieder einen wirklichen Durchbruch“, sagt ein Wirtschaftsvertreter, der nicht genannt werden will. Deshalb sei die Hoffnung unrealistisch, dass Indien trotz seiner Größe schnell eine echte Alternative zu China werden könnte. Die „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ zitierte aus einer Erhebung der Außenhandelskammer Indien und Singapur, dass 70 Prozent der befragten Asien-Manager nicht in Indien investieren wollen.
Den CDU-Politiker Ralph Brinkhaus, seit Jahren Vorsitzender der deutsch-indischen Parlamentariergruppe im Bundestag, ficht das nicht an. „Es ist unverzichtbar, gute und intensive Beziehungen zu Indien zu haben. Indien ist kompliziert, die Entwicklung geht nicht schnell – trotzdem muss man in Indien investieren“, sagte er Reuters mit Blick auf die starke Rolle der Bundesstaaten, die verschiedenen Sprachen und Ethnien.
Auch DIHK-Außenwirtschaftsexperte Volker Treier dringt auf mehr Engagement. „Die aktuellen weltwirtschaftlichen Entkopplungstendenzen unterminieren den Zugang deutscher Unternehmen in vielen Weltregionen“, sagte er Reuters. „Indien als bevölkerungsreichster Subkontinent ist auch wirtschaftlich ein Riese, dessen Potenzial sich in den bilateralen deutsch-indischen Wirtschaftsbeziehungen bislang noch viel zu wenig widerspiegelt.“ Denn das Handelsvolumen 2022 wuchs zwar um 28 Prozent auf 29,9 Milliarden Euro. Aber das Riesenland liegt nur auf Platz 24 der Liste der deutschen Handelspartner. Rund 1800 deutsche Unternehmen sind laut DIHK über eigene Niederlassungen vor Ort vertreten – mit insgesamt über 500.000 Beschäftigten.
Und was in dem Energie- und Infrastruktur-hungrigen Land möglich ist, zeigte jüngst der größte Lokomotivauftrag, den die Bahnsparte von Siemens gerade erhalten hat. Insgesamt geht es um die Lieferung von 1200 Elektroloks über einen Zeitraum von elf Jahren sowie deren Wartung und Instandhaltung für 35 Jahre – ein Volumen von rund drei Milliarden Euro. Doch die Erfolge sind punktuell. Während sich die deutschen Maschinenbauer freuen, dass die EU und Indien die wichtigsten Handelshemmnisse in diesem Sektor beseitigt haben, verhindern die hohen Zölle in anderen Bereichen eine Produktion deutscher Konzerne wie in China.
Aber es geht bei der Scholz-Visite eben nicht nur um Geschäfte. Indien pflegt enge Bande zu Russland, von dem es Energie und Waffen bezieht. „Indien hat eine lange Tradition, sich von niemandem vereinnahmen zu lassen. Es gibt einen wahnsinnigen Druck, 1,4 Milliarden Menschen mit Energie zu versorgen“, sagte Brinkhaus. Und die Weltsicht in Südasien ist anders: Laut einer Umfrage des European Council for Foreign Relations (ECFR) sehen fast 80 Prozent der Inder Russland als engen oder notwendigen Partner – die Ukraine ist weit weg. In der Bundesregierung heißt es zudem, man müsse sich nicht wundern, dass Indien Waffen in Russland bestelle, wenn Deutschland keine liefern wolle. Eine begrenzte Freigabe für Militärgerät Anfang Februar – und rechtzeitig vor der Scholz-Reise – zeigt aber, dass die Ampel-Koalition offenbar umdenkt.
Als Anknüpfungspunkt für ein Zusammenrücken auch mit Deutschland könnte die zunehmende Konkurrenz mit dem kommunistischen China sein: Denn es gibt Grenzkonflikte und einen Disput um Wasser im Norden. China pflegt zudem eine enge Partnerschaft mit Pakistan, einem Rivalen Indiens. Trotzdem hat auch Scholz Modi bisher vergeblich davon zu überzeugen versucht, dass Indien anders als China Russlands Angriffskrieg auch in den UN verurteilen sollte.
Für Hoffnung in der Wirtschaft sorgt ein neuer Anlauf für ein EU-Indien-Freihandelsabkommen, der vergangenes Jahr gestartet wurde. Eine jüngst erschienene Studie der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) kommt zu dem Schluss, dass ein Abschluss zwar schwer sei. „Doch erneut zu scheitern ist weder für Indien noch für die EU mit Blick auf die Zukunft ihrer strategischen Partnerschaft eine Option“, heißt es weiter.
Vorschau: Scheinriese oder Gigant? – Scholz reist nach Indien
Quelle: Reuters
Symbolfoto: Bild von Bhaskar Adhikari auf Pixabay
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