Dienstag, November 26, 2024
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Warum Demografie Deutschlands größte Zukunftsgefahr ist

Berlin, 20. Dez – Die Warnungen der Wirtschaft vor einem Arbeitskräftemangel werden immer eindringlicher. Fast jede Branche meldet mittlerweile fehlendes Personal. Woher die dringend benötigten Arbeitskräfte kommen sollen, ist eine zentrale Frage für die Zukunftsfähigkeit Deutschlands. Auch die Sicherheit der Renten hängt davon ab, dass nicht zu viele Leistungsbezieher zu wenig Beschäftigen gegenüberstehen.

Mehr Zuwanderung, eine höhere Geburtenrate, ein höherer Anteil der Bevölkerung, der arbeitet – an allen Schrauben will die Bundesregierung drehen. Das Statistische Bundesamt legte zuletzt neue Modellrechnungen vor, die ein stärkeres Wachstums der Bevölkerung als bisher geschätzt für möglich halten. „Der demografische Wandel wird sich fortsetzen“, sagt Anja Piel, Vorsitzende des Bundesvorstandes der Deutschen Rentenversicherung Bund. „Aber die Erfahrung der vergangenen Jahrzehnte zeigt, dass Anpassungen möglich sind.“

Derzeit leben 84 Millionen Menschen in Deutschland. Das Statistische Bundesamt erwartet je nach Szenario im Jahr 2070 eine Bevölkerung von gut 70 Millionen Euro bis knapp 95 Millionen – abhängig etwa von der Entwicklung der Geburtenrate oder der Zuwanderung. Auch in den „moderaten“ Szenarien wird aber mit einem Anstieg der durchschnittlichen Anzahl von Kindern pro Frau, einer längeren Lebenserwartung und mit einer Zuwanderung von mehreren hunderttausend Menschen pro Jahr gerechnet. In der letzten großen Bevölkerungsprognose 2018 waren die Statistiker noch von einem maximalen Anstieg auf 90,9 Millionen ausgegangen.

Das veranlasste Bundeskanzler Olaf Scholz, eine Zeitenwende auch in der Debatte über die Entwicklung der deutschen Bevölkerung zu verkünden. Er halte ein Wachstum der Zahl der in Deutschland lebenden Menschen bis 2070 auf 90 Millionen für plausibel. Statt der früher erwarteten Schrumpfung könne das Land in den kommenden Jahren also mit einem kräftigen Wachstum der Bevölkerung rechnen. Käme es wirklich so, würde dies die Debatten auf sehr vielen Gebieten verändern – von der Rente, über den Wohnungsbau und den Arbeitsmarkt bis zur politischen Statik in der Europäischen Union.

RENTE, ARBEITSMARKT, WOHNUNGEN

Die Ampel-Regierung geht stärker in die Offensive bei der Arbeitskräfte-Zuwanderung: In den ersten Monaten 2023 will Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) nun die vom Kabinett jüngst beschlossenen Eckpunkte für eine stärkere Öffnung des Arbeitsmarktes für Zuwanderer aus Staaten außerhalb der EU in einen Gesetzentwurf zur Fachkräfte-Einwanderung gießen. Längst hat sich der Blick verändert: Ausländer nehmen Inländern keine Jobs weg, sondern sie sind im Gegenteil nötig, damit zusätzliche entstehen: Die Bundesagentur für Arbeit verweist darauf, dass das Wachstum der Beschäftigtenzahlen in Richtung der Rekordmarke von 35 Millionen von ausländischen Beschäftigten getragen wurde.

Am Arbeitsmarkt hängen auch die Sozialversicherungen, deren Ausgaben etwa für Rente und Gesundheit in einer Gesellschaft mit einer steigenden Zahl älterer Menschen zulegen. Bis Mitte der 2030er Jahre wird die Zahl der Menschen ab 67 Jahren laut Statistikern um etwa vier Millionen auf mindestens 20 Millionen steigen. Das bedeutet auch mehr Rentenempfänger. Schon heute kommen auf 35 Personen im Rentenalter 100 Menschen im Erwerbsalter. Dieses Verhältnis habe sich in den vergangenen 35 Jahren um gut 50 Prozent erhöht, sagt Rentenvorstandschefin Piel vom Deutschen Gewerkschaftsbund. Dennoch sei der Beitragssatz niedriger als in der Mitte der 1980er Jahre.

Die Altersversorgung steht aber weiter vor großen Herausforderungen. Nach derzeitigen Berechnungen muss der Beitrag zur Rentenversicherung von 18,6 Prozent des Bruttolohns voraussichtlich erst 2027 auf dann 19,3 Prozent steigen – und damit später als bisher gedacht, dank höherer Zuwanderung als Folge des Ukraine-Krieges und höherer Sterblichkeit durch die Corona-Pandemie. Bislang ist nicht in Sicht, wie die Regierung weiter steigende Beiträge verhindern will: Das nun auf den Weg gebrachte Kapitalpölsterchen von zehn Milliarden Euro ist viel zu klein, um über Gewinne am Aktienmarkt die Rentenversicherung zu entlasten, die jährlich über 340 Milliarden Euro ausgibt. Das Rentenniveau will die Regierung indes stabilisieren, bei etwa 48 Prozent eines Durchschnittslohns. Dazu und zur Ausgestaltung der Aktienrente soll es 2023 ein Rentenpaket geben.

Eine steigende Zahl von älteren Menschen verändert auch den Wohnungsmarkt. Barrierefreiheit ist das Schlagwort – bezahlbare Mieten, gute Infrastruktur und Erreichbarkeit für Gesundheits- und Pflegedienste gehören genauso dazu. Doch die Bundesregierung kommt derzeit schon mit ihrem ehrgeizigen Vorhaben kaum voran, dass jedes Jahr 400.000 zusätzliche Wohnungen entstehen sollen. Angesichts der Zuwanderung allein von über einer Million ukrainischen Flüchtlingen würden noch viel mehr benötigt. Doch Bauministerin Klara Geywitz (SPD) räumt ein: „In der Tat, wir werden 400.000 in diesem Jahr nicht erreichen.“

NEUE SPANNUNGEN IN EUROPA

Demografische Fragen sind auch im EU-Kontext hoch politisch. In Nachbarstaaten wie Frankreich oder Polen schaut man mit Argusaugen auf die Entwicklung in Deutschland. Seit der Wiedervereinigung hat Deutschland deutlich mehr Einwohner als etwa Frankreich, Italien oder Großbritannien. Seit dem seit 2003 geltenden Nizza-Vertrag wächst in der EU mit dem doppelten Mehrheitsverfahren und der Neuberechnung der Sitze im Europäischen Parlament der Einfluss der Länder mit wachsender Bevölkerungszahl.

Treten die Prognosen tatsächlich ein, dann würde sich die Differenz etwa zwischen Deutschland mit 90 Millionen Einwohnern und dem östlichen Nachbarn Polen deutlich vergrößern, wo bis 2050 mit einer schrumpfende Bevölkerung mit dann nur noch 35 Millionen Einwohnern gerechnet wird. Dazu kommt: Sollte die deutsche Wirtschaft ihre Stärke behalten, wirkt sie weiter wie ein „Staubsauger“ für Arbeitskräfte aus anderen EU-Staaten und den Westbalkan – und verschärft deren demografische Probleme.

Warum Demografie Deutschlands größte Zukunftsgefahr ist

Quelle: Reuters

Titelfoto: Symbolfoto

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