Sonntag, Dezember 22, 2024
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Wirecard vor Gericht – Strafprozess gegen Ex-Chef beginnt

München, 02. Dez – Zweieinhalb Jahre nach der spektakulären Pleite des Finanzkonzerns Wirecard beginnt der Mammut-Strafprozess gegen dessen ehemaligen Chef Markus Braun. In einem der größten Finanzskandale der deutschen Geschichte müssen sich Braun und zwei weitere frühere Manager des einstigen Dax-Konzerns ab Donnerstag vor dem Landgericht München I verantworten. Die Staatsanwaltschaft wirft ihnen Bilanzfälschung, Marktmanipulation, Untreue und gewerbsmäßigen Bandenbetrug vor.

Laut Anklage sollen die Manager den eigentlich unprofitablen Zahlungsdienstleister mit erfundenen Milliardenumsätzen schöngerechnet haben, um Anleger und Kreditgeber zu täuschen. Diese haben eine zweistellige Milliardensumme verloren. Braun hat die Vorwürfe zurückgewiesen. Im Falle einer Verurteilung drohen den Angeklagten bis zu 15 Jahre Haft. Mit einem Urteil der Strafkammer unter dem Vorsitzenden Richter Markus Födisch wird frühestens im Jahr 2024 gerechnet.

Der Aufstieg der Finanztechnologie-Firma aus dem Münchner Vorort Aschheim verlief fast so aufsehenerregend wie ihr Fall. Jahrelang hatte sich Wirecard als Gewinner des Internethandels präsentiert und boomende Geschäfte mit der Abwicklung von Online-Zahlungen ausgewiesen. Die von Braun verkündete Wachstumsstory begeisterte Kleinanleger wie Großinvestoren. 2018 löste Wirecard die Commerzbank im Leitindex Dax ab. Zeitweise war das Unternehmen an der Börse mehr wert als die Deutsche Bank und erwog sogar deren Übernahme. Zwar wurde an Finanzmärkten und in Medien wiederholt der Vorwurf von Unregelmäßigkeiten laut. Doch Wirtschaftsprüfer, Finanzaufsicht und Strafverfolger sahen lange keinen Grund einzuschreiten.

WELTWEITE ERMITTLUNGEN

Im Juni 2020 musste Wirecard jedoch einräumen, dass auf den Firmenkonten 1,9 Milliarden Euro fehlten. Das löste ein wirtschaftliches und ein politisches Beben aus. Der Aktienkurs stürzte ab, der Konzern rutschte als erstes Dax-Unternehmen in die Insolvenz, Braun trat zurück und kam in Untersuchungshaft. In einem Untersuchungsausschuss des Bundestages wurde das Versagen mehrerer Aufsichtsstellen deutlich. Bei der Aufsichtsbehörde Bafin, bei der sogenannten „Bilanzpolizei“ DPR und bei der Wirtschaftsprüfungs-Gesellschaft EY wurden führende Köpfe ausgetauscht. Der Bund reformierte die Finanzaufsicht.

Die Staatsanwaltschaft München und eine Sonderkommission der Polizei durchleuchteten das globale Firmengeflecht um Wirecard in einem ihrer umfangreichsten Ermittlungsverfahren. Dutzende Beamte führten 450 Vernehmungen, durchsuchten mehr als 40 Objekte allein in Deutschland und werteten 42 Terabyte Daten aus. Weltweit wurden Behörden in mehr als zwei Dutzend Ländern eingeschaltet – von der Schweiz bis Singapur, von Österreich bis zu den Philippinen, von Großbritannien bis Russland. Die Ermittler um Staatsanwalt Matthias Bühring trugen ihre Ergebnisse in mehr als 700 Aktenordnern zusammen.

Der Kernvorwurf in der 474 Seiten starken Anklageschrift dreht sich um Zahlungsdienste, deren Abwicklung Wirecard nach eigenen Angaben an andere Unternehmen ausgelagert hatte. Grund der Auslagerung sollen unter anderem als anrüchig geltende Geschäfte mit Pornographie und Glücksspiel gewesen sein. Doch die angeblich milliardenschweren Erlöse aus dem Geschäft mit sogenannten Drittpartnern („Third Party Acquirers“, TPA) hätten tatsächlich nicht existiert, ist die Staatsanwaltschaft überzeugt. Dementsprechend seien Wirecard-Bilanzen und Geschäftsprognosen seit 2015 falsch gewesen. Damit habe das Management Anleger und Banken getäuscht. Außerdem hätten Braun und andere Top-Manager Hunderte Millionen Euro für dubiose Zwecke aus Wirecard-Kassen abgezweigt. Insolvenzverwalter Michael Jaffe kam zum gleichen Ergebnis.

BRAUN SIEHT SICH ALS OPFER

Braun hingegen sieht sich als Opfer einer Bande, die hinter seinem Rücken Milliardensummen veruntreut habe. Brauns Vorwurf zielt offenbar auf seinen ehemaligen Vorstandskollegen Jan Marsalek ab, der für das angeblich erfolgreiche Asien-Geschäft verantwortlich war. Er war nach dem Auffliegen des Bilanzskandals untergetaucht. Marsalek wird mit internationalem Haftbefehl gesucht und in Russland vermutet. Braun vertritt im Gegensatz zur Staatsanwaltschaft die Ansicht, dass die TPA-Umsätze existiert hätten. Die Manipulation von Geschäftszahlen habe für die Verantwortlichen vielmehr den Zweck gehabt, die Veruntreuungen zu verschleiern.

Die Staatsanwaltschaft stützt sich unter anderem auf Aussagen des Mitangeklagten Oliver Bellenhaus. Der frühere Statthalter von Wirecard in Dubai gilt in dem Prozess als Kronzeuge. Er hat von seinen Anwälten erklären lassen, er stelle sich seiner Verantwortung. Bellenhaus sitzt wie Braun in München in Untersuchungshaft. Der dritte Angeklagte, der frühere Wirecard-Bilanzchef Stephan von Erffa, ist auf freiem Fuß. Er hatte im Bundestags-Untersuchungsausschuss um Entschuldigung für die Vorgänge bei Wirecard gebeten, will sich aber seinem Anwalt zufolge derzeit nicht zu der Anklage äußern.

In dem Gerichtssaal im Gefängnis München-Stadelheim, dem größten und modernsten Saal der Münchner Justiz, sind vorläufig 100 Verhandlungstermine bis Ende kommenden Jahres angesetzt. Zum Auftakt am Donnerstag werden die Verlesung der Anklage und eine erste Stellungnahme der Verteidigung erwartet.

Wirecard vor Gericht – Strafprozess gegen Ex-Chef beginnt

Quelle: Reuters

Symbolfoto: Copyright [nikkimeel] /Depositphotos.com

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