Blahodatne, 11. Nov – Russland hat nach eigenen Angaben den Abzug seiner Truppen aus Cherson im Süden der Ukraine ohne Verluste abgeschlossen. Alle Soldaten und sämtliche Ausrüstung seien auf das östliche Flussufer des Dnipro verlegt worden, zitierten russische Nachrichtenagenturen das Verteidigungsministerium in Moskau am Freitag. Die ukrainische Seite zeichnete dagegen ein chaotisches Bild des Abzugs. Demach seien zahlreiche russische Soldaten bei ihrer Flucht im Dnipro ertrunken. Andere hätten ihre Uniformen abgelegt und seien in Zivilkleidung untergetaucht, sagte Serhij Chlan, Mitglied des Regionalrats von Cherson. Reuters konnte die Angaben beider Seiten zunächst nicht überprüfen.
Seinen Angaben zufolge befand sich die Regionalhauptstadt Cherson fast vollständig unter ukrainischer Kontrolle. Partisanen hätten bereits die ukrainische Fahne am Verwaltungsgebäude der Stadt gehisst. Natalia Humeniuk, Sprecherin des ukrainischen Kommandos Süd, erklärte, dass sich russische Soldaten bereits seit zwei Wochen als Zivilisten ausgäben. „Das heißt, dass Sabotageakte nicht ausgeschlossen werden können.“ Ukrainische Truppen nahmen unterdessen die Ortschaft Blahodatne etwa 20 Kilometer nördlich von Cherson ein. Dabei wurde ein Lager von etwa 120 Mörsergranaten der Russen sichergestellt.
Das Moskauer Verteidigungsministerium erklärte, nach der Ankündigung des Abzugs am Mittwoch befinde sich nunmehr kein einziger russischer Soldat und kein militärisches Gerät mehr auf der westlichen Seite des Dnipro, wo auch die Regionalhauptstadt Cherson liegt. Es habe weder beim Personal noch bei der Ausrüstung Verluste gegeben. Der Abzug sei in der Nacht zum Freitag abgeschlossen worden. Pro-russische Blogger hatten am Donnerstagabend berichtet, dass die russischen Truppen beim Überqueren des Flusses unter heftigen Beschuss geraten seien. Nach russischen Angaben wurden fünf Übergangspunkte am Dnipro von der ukrainischen Armee mit US-Raketen vom Typ Himars getroffen. Cherson ist eine von vier ukrainischen Regionen, die Russland volkerrechtswidrig annektiert hat.
„SIE HABEN ALLES GESTOHLEN“
Der ukrainische Verteidigungsminster Oleksij Resnikow hatte der Nachrichtenagentur Reuters am Donnerstag gesagt, es werde mindestens eine Woche dauern, bis Russland seine Truppen aus Cherson abgezogen habe. Seinen Schätzungen zufolge befanden sich noch 40.000 russische Soldaten in der Region. Präsident Wolodymyr Selenskyj sagte in seiner nächtlichen Video-Botschaft, dass die ukrainischen Streitkräfte mittlerweile 41 Ortschaften in der Region zurückerobert hätten. Was gerade geschehe, sei einer der schnellsten und dramatischsten Veränderungen im bisherigen fast neunmonatigen Kriegsverlauf.
Im von der Ukraine zurückeroberten Blahodatne konnte Reuters keine Anzeichen finden, dass sich dort noch russische Soldaten aufhielten. Anwohner machten einen erlösten Eindruck und berichteten, dass etwa 100 Russen die Ortschaft in den vergangenen acht Monaten kontrolliert hätten. Am vergangenen Mittwoch seien sie abgezogen, am Donnerstag hätten die ukrainischen Truppen die Kontrolle übernommen. Einen Dorfbewohner hätten die russischen Soldaten getötet, drei seien verschleppt worden, ihr Schicksal sei unklar.
„In den ersten zwei Monaten waren sie extrem aggressiv“, berichtete der 43 Jahre alte Serhij Kalko. Verlassene Häuser seien geplündert worden, berichteten Anwohner. „Die Russen haben alles gestohlen, sie nahmen alles mit, was sie konnten“, erzählte eine 50 Jahre alte Frau namens Halyna. „Wir haben versucht, uns vor ihnen zu verstecken.“ Von den rund 1000 Bewohnern seien nur rund 60 während der Besatzung geblieben.
Russland – Abzug aus Cherson abgeschlossen
Quelle: Reuters
Titelfoto: Bild von Adrian Pescar auf Pixabay
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