Antakya/Dschandaris, 10. Feb – Vier Tage nach den verheerenden Erdbeben in der Grenzregion zwischen der Türkei und Syrien ist die Zahl der Toten auf über 22.000 gestiegen. In der Türkei wurden bis Freitagnachmittag 18.991 Leichen gezählt, wie Präsident Recep Tayyip Erdogan mitteilte. Mehr als 74.000 Menschen erlitten Verletzungen. In Syrien meldeten die Behörden 3300 Tote. Rettungskräfte und Helfer, darunter Spezialisten aus Dutzenden Ländern, arbeiteten rund um die Uhr, um im Wettlauf gegen die Zeit mögliche Überlebende in den Schuttbergen zu finden. Immer wieder hielten sie inne, riefen dazu auf, still zu sein, und horchten gespannt, ob vielleicht doch noch Lebenszeichen aus den Trümmerhaufen zu vernehmen waren. Manchmal mit Erfolg: Mehrere Menschen konnten auch am Freitag noch gerettet werden, darunter ein zehn Tage altes Baby.
Die Helfer zogen den Jungen zusammen mit seiner Mutter im türkischen Bezirk Samandag aus einer Häuserruine. Die Augen weit aufgerissen, wurde das Baby eingewickelt in eine Wärmedecke in ein Feldhospital gebracht. Die Mutter, blaß und benommen, aber bei Bewusstsein, wurde auf einer Trage in Sicherheit gebracht, wie auf Videoaufnahmen der türkischen Katastrophenschutzbehörde zu sehen ist.
Unweit entfernt konnte eine Siebenjährige nach 95 Stunden gerettet und ins Krankenhaus gebracht werden, wie die Agentur Anadolu meldete. Gar 100 Stunden, nachdem das erste Beben die Region am Montag erschüttert hatte, wurden in Diyarbakir eine 32-Jährige und ihr Sohn lebend geborgen.
Auf der anderen Seite der Grenze in Syrien wühlten sich Weißhelm-Rettungskräfte mit Händen durch Gips und Zement, bis sie den nackten Fuß eines jungen Mädchens erreichten, das einen rosa Pyjama trug. Das Kind war verschmutzt, aber lebendig und nun frei.
„BILAL, OH BILAL!“
Doch je mehr die Zeit verstrich, umso mehr nahm die Hoffnung auf weitere Überlebende ab. Zahlreiche weitere Opfer wurden unter den Trümmern Tausender zerstörter Häuser befürchtet.
Im syrischen Dschandaris saß Nasser al-Wakaa schluchzend auf einem Berg von Trümmern und verbogenem Metall, der noch vor wenigen Tagen das Haus seiner Familie war, sein Gesicht vergraben in Babykleidung. „Bilal, oh Bilal“, rief er wehklagend den Namen eines seiner ums Leben gekommenen Kinder.
Syriens Präsident Baschar al-Assad reiste staatlichen Medien zufolge erstmals ins Katastrophengebiet. Er besuchte demnach ein Krankenhaus in Aleppo. In Syrien ist der Hilfseinsatz besonders schwierig. Das Land steckt seit fast zwölf Jahren im Bürgerkrieg. Zur Erdbebenkatastrophenregion zählen Landesteile, die von der Regierung kontrolliert werden, aber auch Rebellengebiete. Viele Häuser waren wegen der jahrelangen Kampfhandlungen schon vor den Erdstößen beschädigt.
Am Freitag trafen nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) 14 Lkw mit Hilfsgütern im Norden Syriens ein. Sie hatten unter anderem Heizgeräte, Zelte und Decken geladen. Doch das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen warnte, dass seine Lagerbestände im Nordwesten Syriens zur Neige gingen. 90 Prozent der Bevölkerung sind dort auf humanitäre Unterstützung angewiesen.
Insgesamt sind nach Angaben der Vereinten Nationen gut 24,4 Millionen Menschen von der Katastrophe betroffen, die sich über ein etwa 450 Kilometer breites Gebiet erstreckt. Unzählige Menschen müssen bei eisigen Temperaturen im Freien oder in Zeltnotlagern ausharren, weil sie obdachlos wurden oder ihre Häuser einsturzgefährdet sind. Vielerorts mangelt es an Lebensmitteln, Trinkwasser und funktionierenden Toiletten.
In der Türkei sieht sich Präsident Erdogan mit immer größerer Wut der Bevölkerung konfrontiert. Viele werfen ihm und den Behörden vor, viel zu langsam und unzureichend auf die Katastrophe reagiert zu haben. Bei den im Mai anstehenden Wahlen könnte das eine entscheidende Rolle spielen, ob Erdogan sich im Amt hält. Der Präsident hat die Kritik zurückgewiesen. Am Freitag erklärte er bei einem Besuch im Katastrophengebiet, dass die Hilfe nicht so schnell geleistet werde, wie die Regierung dies gerne wolle. Zudem sagte er, dass einige Menschen Märkte ausraubten und Geschäfte angriffen. Der verhängte Ausnahmezustand werde es dem Staat ermöglichen, die nötigen Strafen zu verhängen.
Über 22.000 Tote nach Erdbeben – Baby aus Trümmern gerettet
Quelle: Reuters
Symbolfoto: Bild von Himara Rodriguez auf Pixabay
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