Kahramanmaras/Antakya, 08. Feb – Zwei Tage nach der Erdbeben-Katastrophe im Grenzgebiet zwischen der Türkei und Syrien schwindet zunehmend die Hoffnung auf weitere Überlebende. Mehr als 11.000 Leichen wurden bis Mittwochmittag geborgen. Es dürften jedoch noch viel mehr werden, da immer noch zahlreiche Opfer unter den Trümmern Tausender eingestürzter Häuser vermutet wurden. Vielerorts mussten unzählige Frauen, Männer und Kinder die zweite Nacht bei eisigen Temperaturen im Freien ausharren, während sie erschöpft und verzweifelt auf Hilfe warteten. Viele schliefen in Autos oder auf den Straßen unter Decken. „Wo sind die Zelte? Wo sind die Lkw mit Lebensmitteln?“, schimpfte eine 64-Jährige in der schwer von den Erdstößen getroffenen südtürkischen Stadt Antakya. Rettungsteams habe sie bislang nicht gesehen, auch Lebensmittel würden nicht verteilt. „Wir haben das Erdbeben überlebt, aber wir werden hier vor Hunger oder Kälte sterben.“
Präsident Recep Tayyip Erdogan traf in der Provinz Kahramanmaras ein, in der Nähe des Erdbeben-Epizentrums. Umgeben von Journalisten räumte er ein, dass die Hilfe am ersten Tag nur schleppend angelaufen sei. Es habe Probleme mit Straßen und Flughäfen gegeben. Aber jetzt sei die Lage unter Kontrolle. Er versprach Hilfe für obdachlos geworden Menschen und den Neubau von Häusern innerhalb eines Jahres.
Gleichzeitig rief er dazu auf, nur auf Anweisungen der Behörden zu hören und nicht etwa auf „Provokateure“ – was offenbar als Seitenhieb auf die immer lauter werdende Kritik an dem von vielen Türken als zu langsam und völlig unzureichenden empfundenen Hilfseinsatz zu verstehen war. Erdogan befindet sich mitten im Wahlkampf. Er muss um seine Wiederwahl im Mai fürchten. Aktuelle Umfragen lassen noch keinen klaren Trend erkennen. Der Erfolg oder Misserfolg des Katastropheneinsatzes könnte am Ende entscheidend sein, ob Erdogan sich weiter an der Macht halten kann oder die Opposition die Regierung übernimmt.
UNÜBERSICHTLICHE LAGE IN SYRIEN
Zwei schwere Erdbeben und mehrere Nachbeben hatten am Montag ein Gebiet erschüttert, dass sich über gut 450 Kilometer erstreckt. Nach Angaben türkischer Behörden sind etwa 13,5 Millionen Menschen von der Katastrophe betroffen. Allein in der Türkei wurden inzwischen 8574 Tote gezählt. Zehntausende sind verletzt.
Aus Syrien wurden bislang mehr als 2500 Tote gemeldet. Dort ist die Lage besonders unübersichtlich. Internationale Hilfe lässt sich nur schwer organisieren. Nach fast zwölf Jahren Bürgerkrieg waren in dem Land bereits vor der Katastrophe zahlreiche Straßen und Häuser beschädigt oder zerstört. Von dem Beben betroffen sind sowohl Gebiete, die von der Regierung gehalten werden, als auch von Rebellen. Wie in der Türkei beklagten die Menschen auch hier eine zu langsame Reaktion der Behörden. Bewohner, die in von der Regierung kontrolliertem Gebieten leben, sagten in Telefonaten, dass manche Gegenden mehr Hilfe als andere erhielten.
Ein Rettungsdienst, der im von Aufständischen gehaltenen Nordwesten Syriens aktiv ist, teilte auf Twitter mit, dass noch mit erheblich mehr Toten zu rechnen sei. Hunderte Familien befänden sich unter den Trümmern – und das mehr als 50 Stunden nach dem Erdbeben.
SCHOLZ SAGT HILFE ZU
Zahlreiche Länder haben Unterstützung zugesagt und bereits Hilfsteams entsandt, so auch Deutschland. Bundeskanzler Olaf Scholz sagte, die Bundesregierung habe den türkischen Behörden unverzüglich Hilfe zugesagt. Man stehe zudem in engem Kontakt mit den Vereinten Nationen, um Hilfe auch in das syrische Erdbebengebiet zu bringen. „Jetzt zeigt sich wieder einmal, wie lebenswichtig dieser grenzüberschreitende Zugang ist, für den wir uns seit Jahren einsetzen.“
Die deutsche Luftwaffe bereitete nach Angaben aus Bundeswehrkreisen die Lieferung von Hilfsgütern in die Erdbeben-Region vor. Am Donnerstag sollen demnach drei Transportmaschinen des Typs A400M vom Stützpunkt Wunstorf in Niedersachsen aus mit Hilfsmaterial in Richtung Türkei starten. Die Hilfsgüter kämen vom Technischen Hilfswerk THW und würden per Konvoi aus Süddeutschland nach Wunstorf gebracht.
Eine Lockerung der im Zuge des Bürgerkriegs verhängten EU-Sanktionen gegen Syrien lehnte die Bundesregierung jedoch ab. Entsprechende Forderungen seien das Narrativ von Akteuren, die nun versuchten, die verzweifelte Lage der Menschen für ihre eigenen politischen Interessen auszunutzen, sagte eine Sprecherin des Auswärtigen Amts und nannte dabei explizit die russische Regierung und die mit ihr verbündete Regierung des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad. Dies sei „besonders zynisch“. Die bestehenden Sanktionen der Europäischen Union richteten sich ausschließlich gegen das syrische Regime, dadurch sei die Einfuhr lediglich bestimmter Güter verboten. Hilfsgüter oder etwa Gerät zur Bergung von Menschen seien davon nicht betroffen.
Über 11.000 Tote nach Beben in Türkei und Syrien
Quelle: Reuters
Symbolfoto: Bild von Hans auf Pixabay
Hier findet ihr die aktuellen Livestream-Folgen. Mehr aus Web3, NFT und Metaverse