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Ökonomen zur ersten Zinserhöhung der EZB seit 2011

Berlin, 21. Jul (Reuters) – Die Europäische Zentralbank (EZB) hat erstmals seit mehr als einem Jahrzehnt den Leitzins erhöht. Die Währungshüter um EZB-Chefin Christine Lagarde beschlossen am Donnerstag, den sogenannten Hauptrefinanzierungssatz überraschend deutlich um einen halben Punkt auf 0,50 Prozent zu erhöhen. Die Zinswende der EZB gilt als historisch: Zuletzt hatte sie 2011 den Preis des Geldes verteuert.

Analysten und Wirtschaftsvertreter sagten dazu in ersten Reaktionen:

OTMAR LANG, CHEFÖKONOM TARGOBANK:

„Die EZB konnte nun wirklich nicht mehr anders. Denn wie hätte die europäische Notenbank erklären sollen, dass trotz Inflationsraten von über acht Prozent die Leitzinsen im Euroraum immer noch keiner Anpassung bedürfen? Die Glaubwürdigkeit der EZB ist ohnehin erschüttert. Mit Ausnahme von Japan haben längst alle anderen bedeutenden Notenbanken gehandelt. Ist die Zinsanhebung von heute also eine Entscheidung wider Willen? Zumindest könnte man weiter den Eindruck haben, dass die EZB im Herzen keine wirkliche Verschärfung der Geldpolitik wünscht. Denn warum sonst sollte sie – wie heute offiziell geschehen – ein neues geldpolitisches Instrument vorstellen, um eine sogenannte Fragmentierung des Rentenmarktes zu verhindern?“

IRIS BETHGE-KRAUSS, BUNDESVERBAND ÖFFENTLICHER BANKEN DEUTSCHLANDS (VÖB):

„Die EZB hat heute eine richtige Entscheidung getroffen. Der große Zinsschritt seit elf Jahren signalisiert, dass die Währungshüter mittelfristig die rekordhohe Inflation in den Griff bekommen wollen. Gleichzeitig ist es ein erster Schritt auf einem geldpolitisch langen Weg. Die EZB steht weiterhin vor der großen Herausforderung, die Erwartungen von Unternehmen und Verbrauchern hinsichtlich der Teuerungsraten einzuhegen. Wir werden die EZB auf ihrem Kurs unterstützen.“ 

ULRICH KATER, CHEFÖKONOM DEKABANK:

„Die Zinsen müssen jetzt zügig Richtung 1,5 Prozent angehoben werden. Ein guter Teil hiervon sollte passieren, solange die Wirtschaftsdaten im Sommer und Herbst noch einigermaßen gut sind. Wenn die Wirtschaft im Winterhalbjahr wegen Energieproblemen stagniert, sind Zinserhöhungen schwierig. Obwohl die EZB die weiteren Zinsschritte von den künftigen Wirtschaftsdaten abhängig gemacht hat, ist ein weiterer großer Zinsschritt von 0,5 Prozentpunkten im September wahrscheinlich.

Mit diesem Einstieg in eine straffere Geldpolitik ist das Zeitalter der Null- und Negativzinsen vorbei. Das monetäre Schlaraffenland hat geschlossen. Die Finanzmärkte haben sich schon in den vergangenen Monaten darauf eingestellt, daher gab es auf die heutigen Beschlüsse der EZB keine große Reaktion mehr an Aktien- und Rentenmärkten.“

HELMUT SCHLEWEIS, DEUTSCHER SPARKASSEN- UND GIROVERBAND (DSGV):

„Die heutige Entscheidung für eine echte Zinswende war überfällig angesichts der galoppierenden Inflation. Wir haben schon lange darauf hingewiesen, dass die EZB geldpolitisch umso härter gegensteuern muss, je länger sie ihren Kurswechsel hinauszögert. Durch den verbrecherischen Angriffskrieg auf die Ukraine und den drohenden Gas-Lieferstopp hat sich das Zeitfenster für den Beginn signifikanter Zinserhöhungen noch schneller geschlossen, als wir alle das vorhersehen konnten. Die heutige Entscheidung der EZB muss der Startschuss für eine Reihe weiterer Zinserhöhungen sein.“

MARTIN WANSLEBEN, DEUTSCHER INDUSTRIE- UND HANDELSKAMMERTAG (DIHK): 

„Zu hohe Inflationsraten und zu hohe Zinsen sind beides Gift für die Wirtschaft. Sie schüren Unsicherheit und erhöhen die Finanzierungskosten der Unternehmen. In der aktuellen Lage ist eine klare Positionierung der EZB wichtig, um die Inflationserwartungen zu dämpfen. Deshalb gibt es derzeit keine bessere Option als die Zinsen zu erhöhen, auch wenn das für sich genommen die Konjunktur belastet. Weitere wohldosierte Zinsschritte müssen folgen. Die Inflation ist zum großen Teil eine importierte Inflation. Daher muss nicht nur die EZB reagieren. Auch die Bundesregierung sollte Maßnahmen ergreifen, die an den Ursachen der Inflation ansetzen. So sollte sie sich zum Beispiel für funktionierende Lieferketten, neue Handelsverträge sowie den Abbau von Zöllen stark machen. Die vielen exportorientierten deutschen Unternehmen werden in Zukunft noch stärker als bisher auf optimale Rahmenbedingungen für den internationalen Handel angewiesen sein.“

FRIEDRICH HEINEMANN, ZEW-INSTITUT:

„Es ist gut, dass sich der EZB-Rat zu einem großen Zinsschritt durchgerungen hat. Die Rückkehr der Inflation in den Zielbereich ist nicht absehbar. Noch dazu wird die sehr hohe Konsumentenpreisinflation allmählich auch zur Lohninflation, damit kommt die Lohn-Preis-Spirale in Schwung. Der EZB-Rat musste in dieser Lage endlich Entschlossenheit signalisieren, um die Inflationserwartungen einzudämmen. Während die Zinsentscheidung somit zu begrüßen ist, birgt das neue Transmissionsschutz-Instrument große Gefahren. Die EZB wird damit immer mehr zur Instanz, die über die Finanzierbarkeit hoher Staatsschulden und damit auch über das Schicksal von Regierungen entscheidet. Das ist nicht mit der geldpolitischen Aufgabe einer unabhängigen Zentralbank vereinbar.“

MICHAEL HEISE, CHEFÖKONOM HQ TRUST:

Es werden weitere Zinsschritte folgen, die den Leitzins der EZB zum Jahresende auf 1,0 Prozent und den Einlagensatz wohl auf 0,5 Prozent bringen werden. Eine einigermaßen neutrale Geldpolitik dürfte allerdings erst bei einem Zinsniveau um die zwei Prozent erreicht sein. Die in den vergangenen Jahren beliebten Modellberechnungen, die das inflationsstabile Zinsniveau im negativen Bereich verortet haben, haben sich als Irrlichter für die Zentralbanken erwiesen. 

Dass die Ankündigungen der EZB zum Anti-Fragmentierungsinstrument einigermaßen vage geblieben sind, ist der Lage angemessen. Anleihekäufe zur Kontrolle von Risikoprämien für hoch verschuldete Länder stünden sehr schnell im Konflikt mit dem Verbot der Staatsfinanzierung und mit der Einhaltung der länderspezifischen Quoten bei Anleihebestand. Ökonomisch bedeuten Anleihekäufe eine Ausweitung der Geldmenge, die die Inflation weiter verstärken könnten.“

CHRISTIAN OSSIG, BUNDESVERBAND DEUTSCHER BANKEN (BDB):

„Mit der Erhöhung der Leitzinsen um 50 Basispunkte stellt sich die EZB der Inflation entschlossen entgegen. Damit beenden die europäischen Währungshüter endlich nach acht Jahren die Phase der Negativzinspolitik. Sie zeigen damit, dass sie die hohe Inflation nicht dauerhaft hinnehmen wollen. Das ist auch ein wichtiges Signal an die Tarifparteien.“ 

JÖRG ASMUSSEN, GESAMTVERBAND DER DEUTSCHEN VERSICHERUNGSWIRTSCHAFT (GDV):

„Die erste Zinserhöhung seit 2011 ist zweifellos ein besonderer Moment. Sie kommt spät, ist aber richtig. Die Kapitalmärkte haben die Zinswende seit längerem eingepreist. Die heutige Erhöhung um 50 Basispunkte ist – trotz der Vorankündigung einer Zinserhöhung um 25 Basispunkte – durch die Datenlage für die Eurozone gerechtfertigt. Zugleich ist sie ein symbolträchtiger Schritt, der die Negativzinsphase beendet. Dennoch kann die heutige Zinserhöhung nur ein erster Schritt in einer Reihe gewesen sein.“

BASTIAN HEPPERLE, HAUCK AUFHÄUSER LAMPE PRIVATBANK:

„Letztlich war der Inflationsdruck doch zu groß und die Inflationsaussichten zu schlecht, so dass sich der EZB-Rat zu einem großen Leitzinsschritt durchgerungen hat. Das Ende der Negativzinspolitik ist damit besiegelt. Es bleibt dennoch ein schaler Beigeschmack, da EZB-Präsidentin Christine Lagarde bis zuletzt einen großen Zinsschritt erst für September in Aussicht gestellt hatte. Dass sie es sich binnen kurzer Frist anders überlegt hat, trägt nicht zu einer besseren Berechenbarkeit der geldpolitischen Entscheidungen bei.

Weitere Leitzinserhöhungen werden folgen. Für September zeichnet sich ein weiter großer Zinsschritt ab. Danach steht jedoch ein schwierigeres Konjunkturumfeld bevor. Außerdem dürften viele Euro-Schuldenländer dafür sorgen, dass der Umfang an Zinserhöhungen nicht aus dem Ruder läuft. Zu diesen Ländern gehören auch die meisten Befürworter für das bereits genehmigte Anti-Fragmentierungsinstrument. Das wird als notwendig für eine ordnungsgemäße geldpolitische Transmission gesehen, doch die EZB läuft damit Gefahr, sich noch mehr der fiskalischen Dominanz auszusetzen. Anreize zu einer soliden Finanzpolitik werden damit untergraben. Um die innere Stärke des Euroraums steht es weiterhin nicht gut.“

JÖRG KRÄMER, CHEFVOLKSWIRT COMMERZBANK:

„Es ist gut, dass sich die EZB heute zu einem großen Zinsschritt von einem halben Prozentpunkt durchgerungen hat. Aber das kann nur ein Anfang sein. Der Euroraum mit seinem tiefgreifenden Inflationsproblem braucht eine Serie großer Zinsschritte, um den Leitzins rasch über das sogenannte neutrale Niveau zu bringen, das wir bei knapp drei Prozent sehen. Nur dann würde die EZB die Konjunktur nicht mehr anfachen, so dass die Inflation mittelfristig wieder sinken würde. Aber die EZB schielt auf die hoch verschuldeten Länder wie Italien, die weiter auf niedrige Leitzinsen drängen dürften, obwohl die EZB heute ein Hilfsprogramm für diese Länder beschlossen hat. Die Inflation dürfte noch viele Jahre deutlich über den versprochenen zwei Prozent liegen.“

Ökonomen zur ersten Zinserhöhung der EZB seit 2011

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Titelfoto: Symbolfoto

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