Kiew/Lwiw/London, 06. Mrz (Reuters) – In der Ukraine hielten auch am elften Tag der Invasion durch russische Truppen die Kämpfe in unverminderter Härte an. Zugleich liefen die internationalen Bemühungen zur Vermittlung einer Feuerpause auf Hochtouren, waren aber bis zum Sonntagabend erfolglos. Die Zahl der Flüchtlinge schwoll immer mehr an, laut UN sollen 1,5 Millionen Ukrainer ihre Heimat verlassen haben.
In der umzingelten Hafenstadt Mariupol im Südosten des Landes verschärfte sich die Lage, nachdem am Sonntag ein zweiter Versuch zur Schaffung eines sicheren Korridors zur Evakuierung von Zivilisten gescheitert war. Russland und die Ukraine gaben sich dafür gegenseitig die Schuld. „Sie erlauben uns nicht einmal, die Verwundeten und Getöteten zu zählen, weil der Beschuss nicht aufhört“, sagte der Bürgermeister von Mariupol, Wadym Bojtschenko, der Nachrichtenagentur Reuters.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj warnte vor bevorstehenden Raketenangriffe auf die Hafenstadt Odessa am Schwarzen Meer. Die russische Armee versuchte offenbar auch, weiter auf die Hauptstadt Kiew vorzurücken und diese einzukreisen. Britischen Geheimdienstkreisen zufolge griffen die Russen ähnlich wie in Syrien oder im Tschetschenien-Krieg dicht besiedelte Gebiete an. Der ukrainische Widerstand verzögere jedoch den Vormarsch der russischen Truppen weiter. Russland bestreitet, Zivilisten ins Visier zu nehmen.
Die Ukraine meldete, bislang seien rund 11.000 russische Soldaten getötet und 88 russische Flugzeuge und Hubschrauber abgeschossen worden. Über eigene Verluste machte die Regierung in Kiew keine Angaben. Reuters konnte all diese Berichte nicht überprüfen. Nach UN-Angaben sind mindestens 350 Zivilisten bei den Kämpfen gestorben, Hunderte wurden verletzt.
STAATS- UND REGIERUNGSCHEF VERSUCHEN ZU VERMITTELN
Bei den internationalen Bemühungen um eine Feierpause war am Wochenende vor allem Israels Ministerpräsident Naftali Bennett im Dauereinsatz. Nachdem er am Samstag überraschend drei Stunden mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin in Moskau gesprochen hatte und anschließend nach Berlin zu Kanzler Olaf Scholz flog, telefonierte er am Sonntag nach russischen Angaben erneut mit Putin.
Mit Selenskyj sprach er nach israelischen Angaben am Wochenende drei mal. Zudem telefonierte er mit Scholz und mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Auch Macron und der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hatten Gespräche mit Putin geführt. Ein greifbares Ergebnis der Krisendiplomatie lag zunächst jedoch nicht vor.
Für diesen Montag ist nach Angaben des ukrainischen Unterhändlers David Arachamia eine dritte Gesprächsrunde mit Russland über eine Waffenruhe geplant. Putin ließ keine Anzeichen für ein Einlenken erkennen. „Es ist zu hoffen, dass die Vertreter der Ukraine bei der geplanten nächsten Runde von Verhandlungen einen konstruktiveren Ansatz zeigen, (und) die neu entstehende Realität voll berücksichtigen“, erklärte er nach Angaben des Präsidialamtes.
Russland bezeichnet sein Vorgehen als „Spezialoperation“. Ziel sei nicht die Besetzung der Ukraine, sondern die Zerstörung der militärischen Kapazitäten der Ukraine sowie die Festnahme als gefährlich eingestufter Nationalisten.
Die Regierung in Kiew erneute ihre eindringlichen Bitten an den Westen, die Sanktionen gegen Russland zu verschärfen und Waffen zu liefern, darunter auch Kampfflugzeuge russischer Bauart, die von der ukrainischen Luftwaffe geflogen werden.
Die Bitte Selenskyjs, eine Flugverbotszone über der Ukraine einzurichten, lehnt die Nato ab, die nicht in den Krieg hineingezogen werden will. Am Sonntag drohte Putin Ländern mit schweren Konsequenzen, sollte sie der ukrainischen Luftwaffe gestatten, ihre Flughäfen für Angriffe zu nutzen. Bereits am Samstag hatte er die westlichen Sanktionen mit einer Kriegserklärung gleichgesetzt.
Der russische Angriff hat nach UN-Angaben zur am schnellsten wachsenden Flüchtlingskrise in Europa seit Ende des Zweiten Weltkrieges geführt. Rund eine Million Menschen haben bislang in Polen Schutz gesucht. Rumänien verzeichnete rund 230.000, Ungarn über 160.000 und die Slowakei etwa 114.000. Moldaus Präsidentin Maia Sandu bat bei einem Treffen mit US-Außenminister Antony Blinken in Chisinau die internationale Gemeinschaft um Hilfe bei der Versorgung der Flüchtlinge.
Am Wochenende protestierten zahlreiche Menschen weltweit und auch in Russland selbst gegen den Krieg. Laut der russischen Nachrichtenagentur Tass nahm die Polizei im ganzen Land rund 3500 Menschen fest. In Moskau seien es 1700 gewesen, in St. Petersburg 750, berichtete Tass unter Berufung auf das Innenministerium. Die Beobachtergruppe OVD-Info berichtete von mehr als 2500 Festnahmen in 49 Städten.
Kämpfe um ukrainische Großstädte – Flüchtlingswelle schwillt an
Copyright: (c) Copyright Thomson Reuters 2022
Titelfoto und Fotos: Symbolfotos
Wichtige Entwicklungen zur Ukraine.