Europa sieht sich nach der COVID-19-Pandemie und dem Russland-Ukraine-Krieg mit anhaltenden wirtschaftlichen Herausforderungen konfrontiert, die die Wettbewerbsfähigkeit beeinflussen. Dennoch hat die Region ihre Belastbarkeit bewiesen und erste Anzeichen einer Erholung sind erkennbar. Vor diesem Hintergrund werfen wir einen genaueren Blick auf die makroökonomische Lage und Investitionsmöglichkeiten in Europa.
Vor der COVID-19-Pandemie bestand die Hauptherausforderung der Eurozone in einem Mangel an Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedsländern, die unterschiedliche Wachstumspfade verfolgten, aber an dieselbe Zinspolitik gebunden waren. Es entstand ein Anreiz zur Emission von Schuldtiteln, die zunächst ein explosives Wachstum in Ländern wie Griechenland und Spanien antrieben, sich aber letztlich als nicht nachhaltig erwiesen, da die Risikoprämien nach der großen Finanzkrise wieder stiegen.
Nach der Eurokrise im Jahr 2011 sah sich der Euroraum mit einer anderen Herausforderung konfrontiert: intensiven Sparmaßnahmen in schuldengeplagten Volkswirtschaften, was zu einem zunehmenden Wachstumsgefälle zwischen den Mitgliedsländern führte. Die Wettbewerbsfähigkeit wurde durch die Wiederbelebung der Finanzpolitik gestärkt. Nach einem Jahrzehnt der Sparsamkeit brachte die politische Reaktion auf die Pandemie endlich konstruktive Elemente wie den EU-Fonds der nächsten Generation mit sich – bis der Russland-Ukraine-Krieg ausbrach.
Nun standen nicht nur akut negative Szenarien im Raum, sondern das alte Problem des Zusammenhalts wurde durch ein neues Problem des Verlusts der Wettbewerbsfähigkeit ersetzt. Jahrelang schien Deutschland auf einem Aufschwungskurs zu sein, während Griechenland und Italien zu wenig beitrugen. Während der Russland-Ukraine-Krieg Schwachstellen in der Eurozone aufdeckte (wie Energiesicherheit, Verteidigung und Lebensmittelsicherheit), wurde auch klar, dass die Herausforderungen nicht mehr ignoriert werden können. Sie müssen mit politischen Maßnahmen angegangen werden. Dazu gehören Investitionen – und Investitionen bedeuten widerstandsfähigeres Wachstum.
Energiekrise traf die Wirtschaft nicht wie erwartet
Die Eurozone überstand die wohl akuteste Phase der Energiekrise im letzten Winter ohne die befürchteten schweren Beeinträchtigungen der Wirtschaft. Skeptiker wiesen damals darauf hin, dass sich dieser einmalige Erfolg möglicherweise nicht wiederholen lässt, da er durch die nachlassende chinesische Nachfrage und die Umleitung des Angebots von Asien nach Europa begünstigt wurde. Ein Jahr später, ein weiterer Winter steht bevor, und die chinesische Nachfrage ist weiterhin schwach, während die Erdgasspeicher in der Eurozone weit über dem üblichen Niveau für diese Jahreszeit liegen. Im August waren die deutschen Erdgasspeicher zu über 93 Prozent ausgelastet. Vor einem Jahr lag diese Zahl bei 81 Prozent und im August 2021, vor dem Russland-Ukraine-Krieg, bei nur 55 Prozent.
Die Diversifizierung der geografischen Herkunft oder der Zusammensetzung der Energieversorgung ist zwar aufwendig und mit Investitionen verbunden, aber diese Bemühungen sind bereits im Gange und werden weiter voranschreiten. Mit dem Nachlassen des ersten Schocks und der Verbesserung der Versorgungssicherheit dürften sich die europäischen Energiekosten allmählich normalisieren. Dies zeigt sich bereits in den Daten des deutschen Erzeugerpreisindex. Das reale BIP der Eurozone wuchs im letzten Jahr um 3,4 Prozent, als viele eine Rezession befürchteten. Selbst in diesem Jahr hat das Wachstum von 0,3 Prozent im zweiten Quartal den Beginn einer möglichen Rezession erneut verzögert.
Europa und das Tech-Debakel
Ohne große Mühe können die Namen der weltweit dominierenden europäischen Unternehmen in den Bereichen Lebensmittel, Pharma, Biotechnologie, Automobil, Luxusmode, Industrie und Energie aufgezählt werden. Es gibt jedoch einen Bereich, der in den europäischen Listen auffällig fehlt: Technologie. Von den größten Technologieunternehmen der Welt sind erschreckend wenige in Europa beheimatet. Unter den rund 150 Unternehmen, die den Bloomberg World Technology Index bilden, sind nur neun europäische Unternehmen, die zusammen nur fünf Prozent des Index ausmachen. Unter den Top 10 nach Indexgewicht findet sich nur ein europäischer Name, und unter den Top 50 sind es nur fünf. Und die E-Commerce-, Streaming- und Social-Media-Giganten der USA und Chinas sind dabei nicht enthalten. Das fast vollständige Fehlen von Technologieführern in europäischen Indizes hat zu zwei schweren und sehr bemerkenswerten Perioden der Underperformance gegenüber US-Aktien geführt, sowohl während als auch nach der Pandemie.
Das Argument für europäische Aktien
Seit Ende 2021, also fast genau zu dem Zeitpunkt, als die globalen Aktienmärkte (und der pandemiebedingte Technologieschub) ihren Höhepunkt erreichten, haben europäische Aktien in lokaler Währung eine Outperformance von mehr als 10 Prozent gegenüber US-amerikanischen und 8,5 Prozent gegenüber globalen Wettbewerbern erzielt. In US-Dollar (USD) war die Outperformance zwar geringer (etwa 5 % bzw. 3 %), aber immer noch positiv für Europa. Das heißt, anstatt sich über eine fehlende Technologieführerschaft Europas zu ärgern, sollten Anleger Zeiten des Technologieüberschwangs (wie 2020 und bis jetzt 2023) nutzen, um ihre Aufmerksamkeit auf die vielen Sektoren zu lenken, in denen europäische Unternehmen, die weltweit führend sind, dramatisch überrepräsentiert sind und Europa leicht zu einer globalen Outperformance verhelfen können.
Über die Autorin: Simona Mocuta, Chefökonomin bei State Street Global Advisors.
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