Berlin, 31. Jan – Mit großer Wahrscheinlichkeit wird am Freitag Bundesinnenministerin Nancy Faeser zur SPD-Spitzenkandidatin für die Landtagswahlen in Hessen gekürt. Am späten Nachmittag treffen die Spitzen der hessischen Sozialdemokraten im kleinen hessischen Ort Friedewald ihre Entscheidung – und die SPD-Landesvorsitzende gilt als einzige ernsthafte Kandidatin.
Für Kanzler Olaf Scholz könnte damit erneut die Notwendigkeit einer Kabinettsumbildung näher rücken – zumindest theoretisch. Aus der CDU gibt es bereits Forderungen, dass die Bundesinnenministerin umgehend ihren Posten aufgeben müsse, weil Amt und Spitzenkandidatur nicht vereinbar seien. Allerdings ist nach Informationen von Reuters aus Koalitionskreisen seit Wochen geklärt, dass die 52-Jährige zumindest bis zur Wahl am 8. Oktober im Amt bleiben wird – und möglicherweise auch danach.
Der CDU-Bundestagsabgeordnete Michael Meister kritisiert die sich abzeichnende Doppelrolle von Faeser. „Dieser Spagat würde persönliche und parteiliche Interessen über das Wohl des Landes stellen“, sagte das Mitglied der Landesgruppe Hessen im Bundestag zu Reuters. „Entweder Nancy Faeser bleibt also Innenministerin, oder sie tritt in Hessen an – dann aber bitte ohne Rückfahrschein“, forderte CDU-Generalsekretär Mario Czaja gegenüber der „Funke“-Mediengruppe.
Kritik kommt auch aus der FDP: „Dass sie gleichzeitig in Hessen Wahlkampf macht und das Innenministerium führt, ohne dass das Amt in Berlin leidet, ist jedoch nur schwer vorstellbar“, betonte der hessische FDP-Spitzenkandidat Stefan Naas gegenüber Reuters. Gerade die Bundesinnenministerin habe eine Vielzahl von Herausforderungen zu bewältigen, von extremistischen Bedrohungen von rechts und links bis zur Aufnahme von Geflüchteten.
Die SPD quittiert die Kritik mit einem müden Lächeln. Die Sozialdemokraten verweisen auf den früheren Bundesinnenminister Manfred Kanther (CDU), der 1995 ebenfalls als Spitzenkandidat bei einer Landtagswahl in Hessen angetreten war – und auch im Amt blieb, nachdem er keine Regierung in Wiesbaden bilden konnte. Und Olaf Scholz hat derzeit ohnehin keine Ambitionen, nach dem Abgang von Verteidigungsministerin Christine Lambrecht schon wieder das Kabinett umzubilden. Vielmehr könne Faeser doch von der Doppelrolle im Wahlkampf gegen den hessischen Ministerpräsidenten Boris Rhein profitieren und sei wahrnehmbar, so die Überlegung. Also bleibt Faeser bis zum 8. Oktober im Amt.
Unbestritten ist aber, dass die SPD-Politikerin als Innenministerin einen vollen Terminkalender hat: Innerhalb der Koalition steht das große Thema Einwanderung auf ihrer Agenda ganz oben. Die Ampel will hier neue Wege gehen und vor allem die Einwanderung von Fachkräften steuern. Zudem steht Faeser als Verhandlungsführerin des Bundes im Tarifkonflikt des öffentlichen Dienstes wohl ein heißer Frühling bevor. Die nächste Verhandlungsrunde steht am 22. und 23. Februar an.
DOPPELROLLE ALS NACHTEIL IM WAHLKAMPF?
In der CDU ist man inoffiziell gar nicht so unglücklich darüber, dass Scholz nicht die Reißleine zieht. Denn in der Union verweist man auf die Erfahrungen mit dem früheren Umweltminister Norbert Röttgen als CDU-Spitzenkandidaten im NRW-Landtagswahlkampf 2012. Immer wieder musste sich Röttgen die Frage gefallen lassen, ob er nach einer verlorenen Wahl als Oppositionsführer nach Düsseldorf wechseln werde oder nicht. Als er dies verneinte, schadete ihm dies nach Ansicht der Demoskopen im Wahlkampf.
„Aber die Lage ist nicht vergleichbar“, heißt es in der SPD Hessen. Denn anders als Röttgen sei Faeser schon Oppositionsführerin in Wiesbaden gewesen sowie 18 Jahre lang Mitglied des Landestages. Sie müsse nicht mehr beweisen, dass sie sich nicht zu fein für Landespolitik sei. Dennoch bleibt die Frage, ob hessische Wähler es mögen, dass sie notfalls Bundesinnenministerin bleiben will.
WAS PASSIERT NACH DEM 8. OKTOBER?
Sollte Faeser nach der Wahl wirklich die Chance haben, Ministerpräsidentin zu werden, wird sie nach Wiesbaden wechseln. Nach der letzten Umfrage lag die in der schwarz-grünen Koalition führende CDU allerdings mit 27 Prozent vor SPD und Grünen mit je 22 Prozent. Angesichts der weitgehend geräuschlos arbeitenden CDU-Grünen-Regierung in Hessen ist die Frage, ob die SPD wirklich führende Kraft im Bundesland werden kann.
In SPD-Regierungskreisen in Berlin heißt es, dass Faeser auch im Fall einer Niederlage weiter im Amt bleiben könne. Erneut wird auf das Beispiel Kanther verwiesen.
WAS IST MIT DER PARITÄT IM SCHOLZ-KABINETT?
Mit der Ernennung von Boris Pistorius als Verteidigungsminister hat der Kanzler sein Versprechen gebrochen, dass sein Kabinett paritätisch besetzt sein soll, also gleich viele Posten an Frauen wie Männer vergibt. Sollte Faeser das Kabinett verlassen, könnte Scholz diese fehlende Balance nicht wieder herstellen, auch wenn er erneut eine Frau beruft. „Wir werden bei der nächsten Gelegenheit Sorge tragen, dass dies anders wird“, sagte Scholz im ZDF-Interview nur zu fehlenden Parität. Aber dazu müsste dann einer der Männer das Kabinett verlassen und durch eine Frau ersetzt werden, entweder bei der SPD, der FDP oder den Grünen. Zuletzt gab es Diskussionen um Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD). Landwirtschaftsminister Cem Özdemir (Grüne) wiederum werden Wechselabsichten nach Baden-Württemberg nachgesagt.
Hintergrund: Nancy Faeser vor schwieriger Doppelrolle in Berlin und Hessen
Quelle: Reuters
Symbolfoto: Bild von Alexander Fox | PlaNet Fox auf Pixabay
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